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Gottes Gnade und der Mann in Schwarz

Bildquelle: Wikipedia

Nachdem der weltbekannte Evangelist Billy Graham letzte Woche Mittwoch im Alter von 99 Jahren verstarb, ist das Internet geradezu explodiert: (Eil-)Meldungen, (persönliche) Nachrufe, Tweets, Sendungen und Diskussionen über die Rolle Grahams in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und bis in das 21. Jahrhundert hinein) dominierten zumindest die christliche Berichterstattung. Grahams Wirken und seine Person machen eine solche Reaktion nur angemessen. Ich möchte heute allerdings nicht den Tod Grahams würdigen, sondern an den Geburtstag eines seiner Freunde erinnern (ich bin mir sicher, dass er nichts dagegen hat): Johnny Cash wäre heute 86 Jahre alt geworden (Christianity Today hat hier über die Freundschaft der beiden berichtet).

Sein Geburtstag ist ein guter Grund, sich an Johnny Cash zu erinnern und die Frage zu stellen, was diesen Mann so besonders macht. Das erste Mal bin ich ihm, glaube ich, als Teenager im Religionsunterricht begegnet, in dem wir die Filmbiografie Walk the Line geguckt haben. Wenn ich mich richtig erinnere, muss es dann 2009 gewesen sein, als ich seine erste Autobiographie Der Mann in Schwarz. Eine schonungslose Selbstbiografie in dem Buchbestand meines Vaters für mich „entdeckt“ habe. Meine Begeisterung für Johnny Cash und seine Musik ist seitdem nur gestiegen.

In dem Vorwort zu Steve Turners Biografie (aus der auch alle weiteren Zitate, wenn nicht anders angegeben, stammen) Ein Mann namens Cash beschreibt Kris Kristofferson ihn als „echte[n] amerikanische[n] Held[en], der aus ebenso bescheidenen Anfängen wie Abraham Lincoln aufstieg und Häftlingen ebenso wie Präsidenten zum Freund und zur Inspiration wurde – in aller Welt respektiert und beliebt für seinen Mut, seine Integrität und seine aufrichtige Liebe zu seinen Mitmenschen. […] Dabei war er auf wunderbare, bezaubernde Weise menschlich.“

Kristoffersons Beschreibung erinnert an den American Dream. Diesen – wie immer man auch dieses nicht unproblematische Konzept definieren möchte – hat Cash sicher gelebt, aber das macht ihn noch lange nicht zu dem Mythos, zu dem er geworden ist. Was ist das Besondere an Cash? Warum fasziniert er mich? Vielleicht wird mir Rodney Clapps Buch mit dem vielversprechenden Titel Johnny Cash and the Great American Contradiction. Christianity and the Battle for the Soul of a Nation helfen, diese Frage zu beantworten (dazu muss ich es aber erst noch lesen).

Vielleicht kann aber auch schon der Hinweis in dem Titel auf den „großen amerikanischen Widerspruch“ weiterhelfen. Tatsächlich glaube ich, dass um Johnny Cash zu verstehen, der Gedanke des Widerspruchs essentiell ist – und vielleicht ist es auch gerade darum so schwierig, Cash zu fassen. „He’s a walking contradiction“ hat auch schon Kris Kristofferson gesungen. Einerseits hat Johnny Cash kein Problem damit, in seinem „Folsom Prison Blues“ die Zeile „I shot a man in Reno just to watch him die“, oder in „A Boy Named Sue“ von der wilden Verfolgungsjagd eines Sohnes, der sich bei seinem Vater für den Namen Sue rächen möchte, zu singen. Andererseits ist Johnny Cash nicht der Country-Star, der ab und zu mal ein Gospelalbum aufnimmt, weil das ja irgendwie zum Genre gehört. Wenn Cash von seinem Glauben singt, glaubt man ihm das (weil er es tatsächlich auch so meint). In der Dokumentation The Gospel Music of Johnny Cash erklärt Marshall Grant (hier, Min 4:55), dass Cashs Film Gospel Road: A Story of Jesus mehr über Johnny Cash sagt, „than anybody could possibly say, if you just analyse that entire movie. That is John, that’s his beliefs.“

Auch wenn Cash Lieder anderer Künstler covert, kann er diese einfach dadurch verändern, dass er sie singt; er macht sie zu seinen eigenen – man denke z.B. daran, was sein Cover aus Depeche Modes „Personal Jesus“ gemacht hat, oder auch an seine Version des traditionellen Folksongs „God’s Gonna Cut You Down“, in der klar wird, dass man dem Gericht Gottes nicht entrinnen kann. Aber auch in den selbst geschriebenen Songs hält Cash nicht mit seinem Glauben zurück. Zu den letzten Liedern, die Cash vor seinem Tod geschrieben hat, gehört „The Man Comes Around“, ein apokalyptischer Endzeitsong, in dem es um die Wiederkunft Christi geht, wo nicht jedem die gleiche Behandlung zuteilwird („There’s a man goin‘ ‘round takin‘ names […] Everybody won’t be treated all the same“).

Bono von U2 beschreibt Cash als „Heilige[n], der die Gesellschaft von Sündern vorzog […] Ich habe die Bibel gesehen, in der er las. Ich habe sein Leben aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, und was bei mir zurückgeblieben ist, ist das Gefühl, dass ich jemandem begegnet bin, der die Würde eines Zeitalters besaß, das wir nicht kennen. […] Er hatte mit dem zwanzigsten Jahrhundert nichts gemein. Er war eine mythische Gestalt.“ Bono erfasst, glaube ich, was Cash von vielen anderen unterscheidet. Hier ist Johnny Cash, der Christ, der sich zu traditionellen christlichen Werten bekennt, die Bibel liest und gegen Sünde kämpft, aber daraus nicht den Schluss zieht, sich aus der Musikszene zurückzuziehen. Auch wurde er, wie Steve Turner seinem Kapitel „Von Gnade berührt“ schreibt, dabei niemals selbstgerecht:

Er hatte zu viel gemeinsam mit dem Drogensüchtigen, dem Alkoholiker, dem Vandalen, dem Dieb und dem Ehebrecher, als dass er sich je von ihnen hätte distanzieren wollen. In seinen Augen war der einzige Unterschied zwischen ihnen und ihm der, dass er Vergebung gefunden hatte. „Früher habe ich vieles bereut“, sagte er einmal, „aber dann habe ich mir vergeben. Als Gott mir vergab, dachte ich mir, ich sollte das lieber auch tun.“

Seinen geistlichen Kampf und seine Überzeugungen hat er seinem Lied „Redemption“, das er für das Album American Recordings geschrieben hat, zum Ausdruck gebracht:

Zu meinen Lieblingsliedern gehört unbedingt auch Johnny Cashs Cover von Trent Reznors „Hurt“. Was ich über „Personal Jesus“ gesagt habe, trifft wahrscheinlich noch viel stärker auf „Hurt“ zu. Steve Turner schreibt:

[I]n Cashs Mund gewannen die Worte noch eine andere Dimension. Die Stumpfheit der ersten Zeilen wurde zur Stumpfheit eines Lebens unter Medikamenten. Die Nadel hing am Ende des vertrauten Infusionsschlauchs. Die süßeste Freundin („sweetest friend“) bezog sich natürlich auf June. Mit dem „everyone I know“ (jeder, den ich kenne), der am Ende weggeht („goes away in the end“) sind unter anderem Ray und Carrie […] und Jack Cash gemeint. Sein „empire of dirt“ (Imperium aus Schmutz) manifestierte sich in seinem Besitz, seinen Auszeichnungen und seinem irdischen Ruhm.

„Hurt“ könnte aber auch von der stellvertretenden Sühne handeln. Aus dieser Perspektive ist der „sweetest friend“ Christus, das „empire of dirt“ wird zu Cashs Ansammlung von Sünden, und der Schmerz, der das Herz dieses Songs ausmacht, spiegelt den Schmerz der Kreuzigung wider. So wird der Song zu einem Eingeständnis seiner Untreue gegenüber Christus. Zugleich bietet er die Zusicherung, dass diese Untreue eingeschlossen ist in die Sünden, für die Christus starb.

Rosanne, Cashs Tochter, sagte, als sie das Musikvideo zu „Hurt“ zum ersten Mal sah: „Ich habe geweint wie ein Baby. Er [Cash] saß neben mir und klopfte mir auf die Schulter. Ich sagte ihm, das sei das bewegendste Video, das ich je gesehen hätte. Ich sagte, es sei eigentlich gar kein Video. Es sei ein Dokumentarfilm.“ Hier das unglaublich bewegende Musikvideo:

Das letzte Album der American Recordings-Reihe, American VI: Ain’t No Grave, welches Cash in den letzten Monaten seines Lebens aufgenommen hat, zeigt einen gealterten Johnny Cash. Seiner Stimme ist die Zeit abzuspüren, aber das macht sie nicht kraftlos – im Gegenteil: Songs wie „Redemtion Day“ oder „I Corinthians 15:55“, eine der letzten Kompositionen Cashs, erhalten im Angesicht des Todes vielmehr eine Tiefe und Authentizität, die der Jugend natürlicherweise versagt bleiben muss (man beachte an dieser Stelle auch das Zeugnis von Gunter Gabriel, das Ron Kubsch hier gepostet hat). Dasselbe gilt für „Ain’t No Grave“:

Was ist es nun, dass Johnny Cash besonders macht? Für mich ist es, glaube ich, seine Liebe zum Leben, die er trotz vieler physischer und geistlicher Schmerzen nie verlor. Sein Glaube hat ihn nie verlassen, sondern immer wieder durchgetragen. Larry King fragte Cash 2002 in einem Interview, ob er Gott gegenüber bitter oder böse sei, schließlich sei er erst 70, müsse aber so viel leiden. Cash stellt die Rückfrage, warum er denn bitter sein solle und erklärt, dass er der Letzte sei, der auf Gott böse wäre. Vielmehr betrachte er das Leben als goldenen Teller, den Gott ihm gegeben habe – und es sei schön gewesen. „Die Welt, in der Johnny Cash lebte“, schreibt Turner, „war umwölkt von Schmerz und gefärbt von der Gnade“. Das ist es wohl, was sein Leben so besonders macht: die Gnade Gottes, die Versagen, Schuld, Sünde – und schließlich den Mann in Schwarz selbst – einfärbt.

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