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Geschichte & Menschen

Billy Graham (1918-2018) – Nachruf eines Russlanddeutschen

Bildquelle: BGEA

Vor einer Woche ist Billy Graham gestorben. Der Tod von „Amerikas Pastor“, wie ihn manche bezeichnen würden, hat große Wellen geschlagen (wie bereits am Montag festgestellt). Man kann das als übertriebenen Hype abtun, würde damit aber die Rolle Billy Grahams für das Christentum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verkennen. Der nicht zu unterschätzende gesellschaftliche, kulturelle und politische Einfluss des modernen Evangelikalismus – vor allem in den USA – kann ohne Billy Graham nicht verstanden werden (ganz gleich wie man diesem Einfluss gegenübersteht).

Das ist alles sicher nicht neu. Bemerkenswert ist aber vielleicht die Tatsache (zumindest für die, die meinen Hintergrund teilen), dass der Name Billy Graham den allermeisten Russlanddeutschen ein Begriff sein wird. Manche haben von Graham bereits in der ehemaligen Sowjetunion gehört, in Deutschland wird die große Mehrheit mit ihm konfrontiert worden sein. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich zum ersten Mal von Billy Graham gehört habe, aber ich habe ihn nie „entdeckt“ – irgendwie war er als der große amerikanische Evangelist immer schon da.

Was nicht heißt, dass ich mich ab einem bestimmten Zeitpunkt genauer mit ihm beschäftigt habe. Mit ungefähr 16 Jahren muss ich angefangen haben, mir einige seiner Predigten und Interviews anzuschauen, die es auf YouTube gab. Im April 2010 habe ich mir dann seine Autobiografie So wie ich bin gekauft und in der Folgezeit auch gelesen. Graham gehört somit zu den ersten Figuren, die mich in den mir bis dahin unbekannten amerikanischen Evangelikalismus „eingeführt“ haben. Damit will ich nicht zu viel sagen: Grahams Autobiografie hat mir nicht „den Evangelikalismus“ aufgeschlossen und würde ich seine Autobiografie heute noch einmal lesen, könnte ich wahrscheinlich viele Darstellungen durch inzwischen Dazugelerntes besser verstehen und einordnen (auch einige Nachrufe waren nochmals hilfreich, Grahams Rolle im evangelikalen Kontext zu verstehen); und wenn wir schon bei Amerikanern sind, haben mich seit 2012 Leute wie Tim Keller, Russell Moore, Albert Mohler und die Gospel Coalition doch stärker geprägt.

Dennoch, wenn ich das einmal überspitzt formulieren darf, ist Billy Graham der den Russlanddeutschen bekannte(ste) Vertreter des amerikanischen Evangelikalismus. Das spricht aber noch lange nicht für eine gute Beziehung zwischen Russlanddeutschen und amerikanischen Evangelikalen. Billy Graham ist in russlanddeutschen Kreisen nicht unumstritten (die Haltung mancher Russlanddeutscher ähnelt eher der des amerikanischen Independent Fundamentalist Baptisten David Cloud). Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, um einige persönliche Beobachtungen weiterzugeben, die für diejenigen, die sich fragen, was sie von Billy Graham halten sollen, hilfreich sein könnten.

Essentiell für ein Verständnis des modernen amerikanischen Evangelikalismus ist die Fundamentalisten-Modernisten-Kontroverse des frühen 20. Jahrhunderts. Das amerikanische Christentum war in zwei große Lager gespalten. Den Modernisten, die hauptsächlich durch protestantische Kirchen mit einem liberalen Bibel- und Theologieverständnis vertreten wurden, standen die Fundamentalisten gegenüber, die die Bibel als das vollkommene und von Gott inspirierte Wort akzeptierten, gesellschaftlich und kulturell aber eher isoliert waren und „akademischer Theologie“ auch kritisch gegenüberstanden (viele Russlanddeutsche befinden sich heute in einer ähnlichen Situation).

Billy Grahams Bibelverständnis entsprach in vielen Hinsichten dem der Fundamentalisten. Er akzeptierte die Bibel als das autoritative Wort seines Himmlischen Vaters. Dazu hatte er sich 1949, nachdem er mit vielen Herausforderungen der liberalen Theologie gerungen hatte, durchgerungen und -gebetet. Dieses Vertrauen in die Bibel hat Graham nie aufgegeben. „Die Bibel sagt, …“ war ein typischer Ausdruck in seinen Predigten, den er mutig und ohne Zurückhaltung gebrauchte. Viel Kritik erntete Billy Graham dann von fundamentalistischer Seite, als er 1957 für seinen Feldzug in New York City den Protestantischen Rat von New York nicht von der Mitarbeit ausschloss, was viele Fundamentalisten als Kompromiss mit der liberalen Theologie interpretierten. Graham schreibt dazu in seiner Autobiografie:

Ich vertrat den Standpunkt, daß wir mit jedem zusammenarbeiten sollten, der mit uns zusammenarbeiten wollte. Unsere Botschaft war klar: Christus allein ist der Weg zur Errettung. Wenn also jemand, der theologisch anders dachte als wir, dennoch bereit war, uns bei einer Evangelisation zu unterstützen, dann war er es, der seine persönliche Überzeugungen kompromittierte, nicht wir.

Diesen Standpunkt hat Billy Graham während seiner restlichen Dienstzeit nicht aufgegeben. Wo immer man ihn gelassen hat, hat er gepredigt. Seine Haltung zur Bibel und zum Evangelium hat sich auch in der Bereitschaft gezeigt, Albert Mohler, der 1993 mit dem Anliegen einer theologisch-konservativen Rückbesinnung Präsident des Southern Baptist Theological Seminarys wurde, zu unterstützen und bei seiner Amtseinführung zu sprechen. Grahams kontroversen Kommentar in einem Interview mit Robert Schuller (hier Min 3:03), den man als ein inklusives Verständnis des Evangeliums auslegen könnte, sollte man nicht, so Mohler in einem Radiointerview, als eine Veränderung in Grahams Theologie deuten. Mohler, der darüber mit Graham selbst gesprochen hat, bestätigt die Kontinuität seiner biblischen Evangeliumsverkündigung.

Billy Graham war sicherlich nicht fehlerfrei (wie z.B. Kevin DeYoung in seiner Rezension zu Grant Wackers Buch America’s Pastor festgestellt hat). Auch seine Methoden können hinterfragt werden. Den gerade auch in russlanddeutschen Gemeinden praktizierten „Altarruf“ (wer sich bekehren möchte, „kommt nach vorne“) halte ich für sehr problematisch. Auch das Konzept der Massenevangelisation würde ich hinterfragen (auf mögliche Probleme haben damals schon Leute wie David Martyn Lloyd-Jones und Francis Schaeffer aufmerksam gemacht). Damit will ich Grahams Vorgehensweise nicht grundsätzlich ablehnen. Während des Höhepunktes seines Dienstes war diese Art zu evangelisieren sicher eine gute Möglichkeit, Menschen für Christus zu erreichen, wobei ich auch die Skepsis vieler europäischer Evangelisten, Prediger und Theologen nachvollziehen kann. Als beispielsweise das Janz-Team, die ja im Grunde nicht anders als Billy Graham vorgegangen sind, in Essen evangelisieren wollten, stand Wilhelm Busch diesem Vorhaben zunächst kritisch gegenüber. Dennoch halte ich persönlich Massenevangelisationen nicht (mehr) für eine gute Missionsstrategie. Vielmehr sollte, glaube ich, in den Gemeinden – Woche für Woche – so gepredigt werden, dass sowohl Christen in ihrem Glauben wachsen, aber auch Nichtchristen mitgenommen werden (Tim Keller ist eines der besten Beispiele für eine solche Herangehensweise; wer seine Predigten kennt, weiß was ich meine).

Billy Graham darf aber nicht „nur“ auf seine Evangelisationen reduziert werden (als seien diese nicht schon eindrucksvoll genug). Er gehört mit Carl. F. H. Henry zu den Begründern von Christianity Today, eine der heute einflussreichsten evangelikalen Zeitschriften. Auch wenn Graham in der Fundamentalisten-Modernisten-Kontroverse in manchen Hinsichten den Fundamentalisten zuzuordnen ist, hat er diese doch aus ihrer kulturellen Isolation befreit (zumindest die, die sich befreien ließen). Wenn heute Evangelikalismus oftmals mit Fundamentalismus gleichgesetzt wird, war das in den 50er, 60er und 70er-Jahren gerade nicht der Fall: Evangelikale waren keine Fundamentalisten, sondern die, die theologisch zwar konservative Standpunkte einnahmen, sich aber nicht gesellschaftlich und kulturell isolierten. Billy Graham hat während der Bürgerrechtsbewegung beispielsweise bei seinen Veranstaltungen keine segregierte Platzeinteilung zugelassen (die fundamentalistische Bob Jones University hat bis 1971 keine schwarzen Studenten angenommen). Die traurige Wandlung des Wortes „evangelikal“ hat Tim Keller kürzlich in einem New Yorker-Artikel analysiert.

Letzte Woche Mittwoch hat Gott seinen treuen Diener heimgerufen. In seiner Autobiografie schreibt er, dass er Gott fragen wird, warum er ausgerechnet ihn, einen „Bauernburschen aus North Carolina“ ausgewählt hat, um sein Wort zu so vielen Menschen zu predigen. In dieser Frage sieht Graham bereits seit einer Woche klarer. Uns bleibt das Vorbild eines Mannes, dessen Vertrauen in die Bibel unerschütterlich blieb, der mit Freimut das alte Evangelium der rettenden Gnade Gottes predigte, ein moralisch vorbildliches Leben führte (es gab in seiner ganzen Laufbahn keinen Geld- oder Sexskandal) und uns heute sicher sagen würde: predigt dieses alte Evangelium – in eurer Zeit, in eurem Kontext, mit den entsprechenden Mitteln.

Über seinen Tod haben u.a. berichtet: Christianity Today, The New York Times, Albert Mohler, Russell Moore, John Piper, Greg Thornbury, Joe Carter und pro Medienmagazin.

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Ergänzend zu Grahams Rolle in der Bürgerrechtsbewegung möchte ich noch auf zwei weitere Artikel hinweisen, die die Thematik differenzierter angehen:
(1) Stephen L. Carter beschreibt Grahams Haltung als seiner Zeit voraus, wobei Graham doch Kind seiner Zeit blieb. Rückblickend könnte man Graham vorwerfen, so Carter, dass er zu lange gebraucht hat, seine Zeit hinter sich zu lassen. Trotzdem würdigt Carter Grahams Einsatz: https://www.bloomberg.com/view/articles/2018-02-22/billy-graham-s-record-on-race-was-both-ahead-and-of-his-time
(2) Emma Green geht auch auf die Entwicklung Grahams in dieser Frage ein: https://www.theatlantic.com/politics/archive/2018/02/billy-graham-death/553850/

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