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Atheismus einmal anders betrachtet: Jean Paul und Stephen King

Was bedeutet die Existenz eines allgegenwärtigen, allwissenden und allmächtigen Gottes für das persönliche Leben von individuellen Menschen? Atheisten wie Christopher Hitchens verbinden diesen Gott mit George Orwells „Big Brother“, mit einer Macht also, die das gesamte Leben überwacht, kontrolliert und echte Freiheit unmöglich macht (übrigens auch echte Moral, wie Hitchens hier argumentiert; John Lennox geht hier auf den Big Brother-Vorwurf Hitchens ein).

Ist Gott ein Big Brother? Schränkt seine Gegenwart uns ein? Raubt Gott uns unsere Freiheit? Vielleicht ist es hilfreich, einmal die Gegenfrage zu stellen: Was bedeutet die Abwesenheit Gottes? Bedeutet unsere „Emanzipation“ von Gott wirklich Freiheit? Wer sich mit diesen Fragen auseinandersetzt, sollte unbedingt Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei lesen, in der sich Jean Paul mit dem Atheismus und den daraus entspringenden Folgen auseinandersetzt. Er stellt zu Beginn fest:

[D]as ganze geistige Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahlenlose quecksilberne Punkte von Ichs, welche blinken, rinnen, irren, zusammen und auseinander fließen, ohne Einheit und Bestand. Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner – er trauert mit einem verwaisten Herzen, das den größten Vater verloren, neben dem unermeßlichen Leichnam der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält, und der im Grabe wächset; und er trauert so lange, bis er sich selber abbröckelt von der Leiche. Die ganze Welt ruht vor ihm wie die große, halb im Sande liegende ägyptische Sphynx aus Stein; und das All ist die kalte eiserne Maske der gestaltlosen Ewigkeit.

Anschließend führt Jean Paul an, dass er mit seiner Erzählung leichtfertige Gottesleugner in Furcht versetzen möchte:

Auch hab‘ ich die Absicht, mit meiner Dichtung einige lesende oder gelesene Magister in Furcht zu setzen, da wahrlich diese Leute jetzo, seitdem sie als Baugefangene beim Wasserbau und der Grubenzimmerung der kritischen Philosophie in Tagelohn genommen worden, das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig erwägen, als ob vom Dasein des Kranken oder Einhorns die Rede wäre.

In der Erzählung (die man in 20 Minuten lesen kann) schildert Jean Paul dann einen Traum: Er findet sich auf dem Gottesacker wieder, gemeinsam mit den Toten, die erwacht sind. Sie fragen Christus, der dort erscheint, ob es denn keinen Gott gibt. Christus muss den verzweifelten Toten sagen, dass sie keinen Vater haben:

„Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schaute in den Abgrund und rief: ‚Vater, wo bist du?‘ Aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!“

Im weiteren Verlauf wird der Träumer Zeuge der vollständigen Zerstörung der Welt; was bleibt ist Verzweiflung – bis er erwacht:

Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet. Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren und warf friedlich den Widerschein ihres Abendrotes dem kleinen Monde zu, der ohne eine Aurora im Morgen aufstieg; und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und vor der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken.

Ob Jean Paul selber gläubig war oder nicht, kann ich nicht einschätzen. Ist der angeführte Abschluss der Erzählung als aufrichtige Dankbarkeit für den Himmlischen Vater zu verstehen? Oder geht es darum, dass der Glaube das Beste ist, was uns in dieser vergänglichen und kurzflügeligen Welt passieren kann, wenn er sich auch nachher als Illusion erweist? Wie dem auch sei: Die Rede des toten Christus zerstört, glaube ich, – nicht zuletzt durch Jean Pauls Sprachgewalt, die einem beim (lauten) Lesen schier eine Gänsehaut bescheren kann – das leichtfertige Abtun Gottes als eines Big Brothers. Wenn es Gott nicht gibt, dann sind wir vollkommen allein, wortwörtlich gott-los – und das ist das Schlimmste, was uns passieren kann.

Nachdem Jean Paul einleitend klargemacht hat, dass er mit seiner Dichtung leichtfertige Gottesleugner in Furcht versetzen möchte, macht er einen weiteren, wie ich finde sehr interessanten, Punkt:

Für andere, die nicht so weit sind wie ein lesender Magistrat, merk‘ ich noch an, daß mit dem Glauben an den Atheismus sich ohne Widerspruch der Glaube an Unsterblichkeit verknüpfen lasse; denn dieselbe Notwendigkeit, die in diesem Leben meinen lichten Tautropfen von Ich in einen Blumenkelch und unter eine Sonne warf, kann es ja im zweiten wiederholen; – ja noch leichter kann sie mich zum zweiten Male verkörpern als zum ersten Male.

Tatsächlich ist es in seiner Erzählung ja auch so, dass die Toten erwachen, also weiterleben, und die Feststellung, dass sie allein und ohne Vater sind, den wahren Horror verursacht. Das führt mich zu einer sehr interessanten Äußerung des wohl bekanntesten heute lebenden Horrorautors: Stephen King. King, der sich selbst wahrscheinlich nicht als Christ verstehen würde (auf seiner Homepage heißt es nur, dass er als Methodist aufgewachsen ist, in seiner Jugendzeit regelmäßig zur Kirche ging, an Gott glaubt und die Bibel liest, auch wenn er nicht mehr zur Kirche geht), erzählt in einem Kommentar über Stanley Kubricks Verfilmung seines Romans The Shining von einem Telefonat, in dem Kubrick ihn fragte, ob er nicht damit übereinstimme, dass Geistergeschichten grundsätzlich optimistisch seien. Auf Kings Frage wie er das meine, antwortete Kubrick, dass Geistergeschichten implizieren, dass wir den Tod überwinden – das sei doch optimistisch. „Herr Kubrick“, erwiderte King nur, „aber was ist denn mit der Hölle?“ Nach einer längeren Pause erwiderte Kubrick nur (mit veränderter Stimme), dass er nicht an die Hölle glaube. Das sei natürlich in Ordnung, so King, dennoch würden einige von uns an die Hölle und das Überleben von Geistern glauben – „and that may be hell!“ Hier der Kommentar von King:

Jean Paul und Stephen King erinnern uns daran, mit der Gottesfrage nicht leichtfertig umzugehen. Diese Erinnerungen sind notwendig. Wir können uns von Gott emanzipieren – in die unendliche Einsamkeit; es geht ohne Gott – in die Dunkelheit, wie Manfred Siebald sagen würde. Jetzt ist es natürlich nicht so, dass wir uns Gott einfach denken sollten, weil ja die Alternative schlimmer wäre. Aber wer ist Gott denn? Wie ist er? Können wir ihn finden? Wir haben Gott doch nicht gesehen, niemand hat das!

Oder doch?

Gut, dass „der Eingeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, […] es [uns] verkündigt [hat]“ (Joh. 1,18).

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