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Russland-Mennoniten

Bedeutende Jahreszahlen russland-mennonitischer Geschichte | 1975

Einleitung zur Artikelreihe: Mit der Reihe „Bedeutende Ereignisse mennonitischer Geschichte“ möchte ich anhand einiger wesentlicher Jahreszahlen einen groben Rahmen liefern, um die Geschichte der Russland-Mennoniten zu erfassen. Meine Absicht ist es vor allem bei denjenigen, die Nachfahren dieser Gruppierung sind oder sich hierzu zählen, Interesse an ihrer Geschichte zu wecken und zugleich Schubladen im positiven Sinne zu bieten, in die sie ihr bisheriges Wissen einsortieren können. Bisher sind in dieser Reihe Artikel zu den Jahren 1525, 1527, 1530, 1789, 1860, 1869, 1902, 1917, 1929, 1941 und 1956 erschienen.

Nach den Ereignissen im 20. Jahrhundert wie der Oktober-Revolution, der Zwangskollektivierung und der damit verbundenen Enteignung, der Deportation während des zweiten Weltkriegs und der Zeit danach, wo die Deutschen als Faschisten gelten, kommt der Wunsch auf nach Deutschland zurückzukehren. Obwohl schon über 200 Jahre in Russland sesshaft, fühlen sie sich immer noch als Deutsche und sehen Deutschland als ihre irdische Heimat. Das liegt nicht zuletzt an der deutschen Sprache, die sie über die beiden Jahrhunderte kultiviert haben. So kommt es in den 70-er Jahren zur Ausreise nach Deutschland.

Ab 1975 | Auswanderung in die deutsche Heimat

John Klassen sagt zu den Motiven für die Auswanderung folgendes:

Dem Entschluss zur Aussiedlung gehen in der Regel negative Erfahrungen und Erlebnisse voraus, die sich zunächst im Unterbewusstsein festsetzen und schließlich formiert sich der drängende Wunsch auszuwandern. Es beginnt ein Überlegen und Diskutieren des Für und Wider einer Ausreise. Eisfeld ermittelte unter Spätaussiedlern[1] folgende drei Schwierigkeiten, die den Ausreisewunsch bewirken: Verlust der Muttersprache, Hindernisse in dem Ausleben des Glaubens und nationale, politische und kulturelle Diskriminierung.[2]

Die Auswanderung erfolgt in mehreren Schüben und beginnt laut Otto Wiebe etwa 1975[3]. Die größte Auswanderungswelle beginnt 1987, dem Jahr in dem die sowjetische Regierung die Ausreisebestimmungen überarbeitet. Innerhalb von zehn Jahren wandern „etwa 1.500.000 Menschen nach Deutschland aus. Darunter befanden sich etwa 125.000 Menschen, deren Namen auf mennonitische Herkunft schließen lässt; etwa die Hälfte hatte Kontakt zu einer christlichen Gemeinde, aber nur etwa zehn Prozent suchten eine täuferisch-mennonitische Orientierung.“[4]

Mit der Perspektive nach Hause zu kommen, reisen sie nach Deutschland. Was sie jedoch bei der Ankunft empfinden, drückt die Aussage einer Frau treffend aus, die ich vor einigen Wochen hörte: „Wir kamen und wir waren fremd.“ Lichdi schreibt passend hierzu unter dem Untertitel „Kulturschock“ folgendes:

In Deutschland angekommen, fanden sie sich in einer ihnen fremden Welt wieder. Vieles entsprach nicht ihren Vorstellungen und Erwartungen. Die Darstellung von Gewalt und Sexualität in den Medien entsetzte sie. Der Pluralismus in Politik und Gesellschaft, die Beliebigkeit der Wertvorstellungen verunsicherte die Aussiedler, insbesondere, wenn sie klar umrissene Grundsätze mitgebracht hatten. Deshalb sahen sie in vielen Fällen ein hohes Maß an Abgrenzung gegenüber Nicht-Aussiedlern als überlebensnotwendig an. […] Die Christen, mit denen sie zusammentrafen, und das waren auch Mennoniten, die sich um ihre Ansiedlung kümmerten, beurteilten sie bald als oberflächlich und wenig fromm.[5]

Viele Russland-Mennoniten befinden sich heute z.B. in folgenden Bünden (Liste unvollständig):

  • Arbeitsgemeinschaft zur geistlichen Unterstützung in Mennonitengemeinden (AGUM); ältester Zusammenschluss von Russland-Mennoniten, gegründet 1978
  • Bund Taufgesinnter Gemeinden (BTG), gegründet 1989 von den Einwanderern ab den 70-er Jahren
  • Vereinigung der EvangeliumsChristen-Baptistengemeinden (VEChB); besteht hauptsächlich aus Mitgliedern, die in der Sowjet-Union zu den vom Staat getrennten Gemeinden gehörten; betreibt das Missionswerk „Friedensstimme“
  • Bruderschaft der Christengemeinden in Deutschland (BCD); offizieller Anfang 1989

Hermann Heidebrecht von dessen Buch „Fürchte dich, du nicht kleine Herde!“ ich stark profitiert habe, möchte ich das abschließende Wort geben. Er beendet die erste Auflage seines Buches folgendermaßen:

Man kann abschließend in Anlehnung an den Psalm 23 (Der Herr ist mein Hirte) und Lukas 12,3 (Fürchte dich nicht, du klein Herde) auch über die „kleine Herde“ der Russlandmennoniten sagen: Der gute Hirte hat die kleine Herde wieder auf „grüne Auen“ gebracht. Er hat sie aber auch in all den schweren Jahren im „finsteren Tal“ nie verlassen, er speiste sie sogar im „Angesicht der Feinde“ und hat sie erhalten und gesegnet. Er hat wohl noch einiges mit ihr vor![6]

Amen!

PS: Zum Schluss dieser Reihe gibt es morgen für alle, die an dem Test teilnehmen, das Buch
Durchs weite Turkestan – Die dramatische Geschichte eines deutschen Mennoniten zu gewinnen. Unter denjenigen, die den Test ohne Fehler bestehen, wird der Sieger von meiner Tochter am 26.03 ausgelost. Die Teilnahme ist bis zum 25.03.2018 möglich.

[1] Als Spätaussiedler gelten diejenigen Aussiedler, die ab dem 1. Januar 1993 nach Deutschland eingewandert sind.
[2] Klassen, John; Russlanddeutsche Freikirchen in der Bundesrepublik Deutschland S.66
[3] Wiebe, Otto; Mennoniten-Brüdergemeinde S.68
[4] Lichdi, Dieter Götz; Die Mennoniten in Geschichte und Gegenwart S.224
[5] Ebd. S.226
[6] Heidebrecht, Hermann; Fürchte dich nicht, du klein Herde! S.120f

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