Neben dem Psalmengebet sollte die gemeinsame Morgendandacht nach Bonhoeffer eine Schriftlesung enthalten. Bonhoeffer stellt die Frage nach dem Ziel der Bibellese am Morgen und beobachtet eine Gefahr, wenn sie sich nur auf einzelne Verse beschränkt:
Wir sind fast alle mit der Meinung groß geworden, es handle sich in der Schriftlesung allein darum, das Gotteswort für den heutigen Tag zu hören. Darum besteht die Schriftlesung bei vielen nur aus einigen kurzen, ausgewählten Versen, die das Leitwort des Tages ausmachen sollen.
In seiner Kritik denkt Bonhoeffer vor allem an die Losungen der Brüdergemeinde. Er ist jedoch keinesfalls ein Gegner dieser Losungssprüche und erkennt den großen Segen, den sie gebracht haben. Aber diese Ansammlung von einzelnen Versen hat doch einen entscheidenden Nachteil, denn:
Die Heilige Schrift besteht nicht aus einzelnen Sprüchen, sondern ist ist ein Ganzes, das als solches zur Geltung kommen will.
Es geht Bonhoeffer vor allem darum, die Bibel nicht mit dem Fokus auf sich selbst zu lesen (so nach dem Motto: „Was sagt mir die Bibel heute?“), sondern mit dem Fokus auf Gott. Es findet nicht jeder für sich sein Stückchen Weisheit, denn die Bibel ist als Ganzes Gottes Wort. Deshalb zieht Bonhoeffer für die Morgenandacht folgenden praktischen Schluss:
Darum muß die gemeinsame Andacht außer dem Psalmengebet eine längere alt- und neutestamentliche Lektion enthalten. Eine christliche Gemeinschaft sollte wohl imstande sein, morgens und abends je ein Kapitel aus dem alten Testament und mindestens je ein halbes Kapitel aus dem Neuen Testament zu hören und zu lesen. (S. 44)
Bonhoeffer weiß, dass diese Aufforderung für die meisten Christen zu groß ist:
Beim ersten Versuch wird sich allerdings herausstellen, daß schon dieses geringe Maß für die meisten eine Höchstforderung darstellt, die auf Widerspruch stößt. (S. 44)
In dem Einwand, die Lesung sei zu lang, sieht Bonhoeffer „eine schwere Schuld verborgen“, die uns „mit tiefster Beschämung“ erfüllen sollte. Er sieht in der Tatsache, dass die Texte so lang sind und uns die Erfassung des Ganzen unmöglich machen, stattdessen sogar etwas Positives:
So darf man vielleicht sagen, daß jede Schriftlesung gerade immer um einiges ‚zu lang‘ sein muß, damit sie nicht Spruch- und Lebensweisheit ist, sondern Gottes Offenbarungswort in Jesus Christus. (S. 45)
Wieder merkt man, wie Bonhoeffer den Fokus bei der Bibellese von uns selbst wegnehmen und auf Gottes Wort lenken möchte. Das Wort Gottes ist „ein lebendiges Ganzes“, es ist die Wirklichkeit. Erst im Lichte der Heiligen Schrift können wir unser Leben richtig verstehen:
Was wir unser Leben, unsere Nöte, unsere Schuld nennen, ist ja noch gar nicht die Wirklichkeit, sondern dort in der Schrift ist unser Leben, unsere Not, unsere Schuld und unsere Errettung. […] Nur aus der Schrift lernen wir unsere eigene Geschichte kennen. (S. 47)
Weil wir nur aus der Schrift unsere eigene Geschichte kennen lernen können, empfiehlt Bonhoeffer eine fortlaufende Lesung, um in Gottes Geschichte „einzusteigen“:
Die fortlaufende Lesung biblischer Bücher zwingt jeden, der hören will, sich dorthin zu begeben, sich dort finden zu lassen, wo Gott zum Heil der Menschen ein für allemal gehandelt hat. […] Es ist in der Tat wichtiger für uns zu wissen, was Gott an Israel, was er an seinem Sohn Jesus Christus tat, als zu erforschen, was Gott heute mit mir vorhat. (S. 46)
Die aus der Bibellese resultierende Schriftkenntnis ist für Bonhoeffer von elementarer Bedeutung. Er kritisiert, dass selbst bei wichtigen Fragen die Schrift viel zu selten als Argumentationsgrundlage genommen wird:
Wer aber weiß heute noch etwas rechtes über die Notwendigkeit des Schriftbeweises? Wie oft hören wir zur Begründung wichtigster Entscheidungen ungezählte Argumente ‚aus dem Leben‘, aus der ‚Erfahrung‘, aber der Schriftbeweis bleibt aus, aber gerade er würde vielleicht in gerade entgegengesetzter Richtung weisen?
Da ist was dran.