Das Wort „Keuschheit“ ist im heutigen Sprachgebrauch eher unüblich, es scheint etwas Antiquiertes an sich zu haben. Der Duden schreibt ihm die Bedeutungen „sexuelle Enthaltsamkeit“, „Sittsamkeit“ und „moralische Reinheit, Integrität“ zu – das sind an sich keine schlechten Tugenden. In russlanddeutschen Gemeinden verbindet man mit diesem Begriff vor allem Debatten über (Frauen)Kleidung. Manche Russlanddeutsche beharren auf strengste Kleidungsvorschriften und verstehen diese als wichtiges Abgrenzungsmerkmal zur Welt und auch als natürlichen Bestandteil des christlichen Zeugnisses. Andere sind von diesen Debatten so frustriert, dass jeglicher Anflug eines Gesprächs über christliche Kleidung kategorisch unter dem Stichwort „Gesetzlichkeit“ abgelehnt wird.
Tim Challies hat vor einigen Jahren einige dreiteilige Artikelreihe veröffentlicht, auf die ich kürzlich aufmerksam gemacht wurde. Die Ausführungen sind, wie ich finde, wirklich hilfreich (und zeigen auch, dass es sich hier um kein singulär russlanddeutsches Problem handelt): Challies geht das Thema biblisch und sehr differenziert an, pauschalisiert nicht, sondern zeigt auf, worum es dem Evangelium und im Evangelium tatsächlich geht. Ich habe die Artikel gewinnbringend gelesen und empfehle die Lektüre herzlich weiter.
Ich habe mit der Genehmigung von Tim Challies den ersten und dritten Artikel seiner Reihe übersetzt, den zweiten habe ich kurz zusammengefasst. Die von Challies gebrauchten Begriffe „modesty“ und „immodesty“ habe ich mit „Sittsamkeit“ und „Unsittlichkeit“ übersetzt; das Adjektiv „keusch“ im heutigen deutschen Sprachgebrauch trifft die Bedeutung von „modesty“, finde ich, nicht sehr gut: „modesty“ meint Bescheidenheit, Zurückhaltung, keine Extravaganz und Arroganz und kann sich, wie auch Challies sagt, auf viele Bereiche beziehen. Hier der erste Artikel:
Sittsamkeit ist wichtig: das Herz der Sittsamkeit
Sittsamkeit. Das ist eines dieser Themen, die wir alle schon einmal untereinander diskutiert haben. Wir haben alle schon mal einen Prediger oder Jugendpastor darüber predigen gehört. Und irgendwie scheinen wir am Ende des Ganzen selten befriedigt zu sein. Sittsamkeit, stellt sich heraus, ist ein schwieriges Thema.
Ich finde Sittsamkeit ist ein faszinierendes Thema, gerade weil wir es so schwierig finden, darüber gut zu diskutieren. Ich habe vor, in einigen Artikeln ein paar Gedanken zu diesem Thema mitzuteilen. Ich möchte uns alle dazu ermutigen, Männer und Frauen zu sein, die durch Sittsamkeit geprägt sind – sittsame Männer und sittsame Frauen, gekleidet in dem Evangelium von Jesus Christus. (Anmerkung: Sittsamkeit kann sich auf viele Charakteristika beziehen, Reden und Verhalten eingeschlossen, aber in dieser Reihe werde ich nur über Sittsamkeit in Fragen der Kleidung sprechen).
Eine Erscheinung der Weisheit
Kolosser 2,20-23 ist ein interessanter Startpunkt, wenn wir über Sittsamkeit nachdenken. Da schreibt Paulus:
Wenn ihr mit Christus den Elementen der Welt gestorben seid, was unterwerft ihr euch Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt: Berühre nicht, koste nicht, betaste nicht!, – was doch alles zur Vernichtung durch den Gebrauch bestimmt ist, nach den Geboten und Lehren der Menschen? Das alles hat zwar einen Anschein von Weisheit, in eigenwilligem Gottesdienst und in Demut und im Nichtverschonen des Leibes – also nicht in einer gewissen Wertschätzung –, dient aber zur Befriedigung des Fleisches.
In diesen Versen sehen wir die schonungslose Wahrheit, dass wir als sündige Menschen Regel-Macher, Regel-Befolger und Regel-Brecher sind. Wir lieben Regeln! Wir lieben es, Regeln zu machen und wir lieben es, Regeln zu brechen. Und wenn es in der christlichen Welt eine Diskussion gibt, die von dem Machen, Halten und Brechen von Regeln geprägt ist, dann muss es diese sein. Die sittsame Frau ist die Frau, die die Regeln kennt und hält. Und das ist genau das, wo uns diese Passage hilft.
Paulus hat diesen Brief an Christen geschrieben, an Leute, die Gott dadurch ehren wollten, indem sie ihren Glauben auf alle Bereiche ihres Lebens ausdehnen. Sie sind einigen Herausforderungen begegnet, die das gottesfürchtige Leben mit sich bringt und haben sich gedacht, dass sie diesen Herausforderungen durch eine Liste von Regeln begegnen konnten. So wollten sie Gott in den einzelnen Situationen gefallen: Habe damit keinen Umgang. Probiere das nicht. Berühre das nicht. Sie waren sicher, dass die Regeln sie von der Sünde beschützen würden.
So scheint das immer zu gehen. Das ist genau das, was die Pharisäer im Neuen Testament gemacht haben. Sie wollten die Zehn Gebote halten und haben dann hunderte von anderen Gesetzen geschaffen, die sie dann sicher in den zehn großen Gesetzen halten würden. Paulus sieht das in der Gemeinde zu Kolossä und versteht, dass auch wenn die Regeln sehr wohlgemeint waren, sie eigentlicher sehr, sehr gefährlich waren. Er sagt der Gemeinde, dass solche Regeln zwar sehr gottesfürchtig aussehen, sie aber eigentlich wertlos sind, wenn es um das allerwichtigste geht – nämlich das Herz anzusprechen. Diese Leute könnten alle Regeln einhalten und dabei immer noch geistlich komplett rebellisch sein. Paulus wusste das, weil er ein Pharisäer gewesen war. Er war einer der eifrigsten Regelbefolger und die gerechteste Person in der ganzen Nation. Aber dann hat er Jesus getroffen und sofort festgestellt, dass die Regeln ihm nicht geholfen, sondern gehindert haben; sie haben nicht Freiheit, sondern Gefangenschaft gebracht. Er ist den Regeln fast stracks in die Hölle gefolgt.
Und genau da führen so viele Sittsamkeitsdebatten hin. „Nur so hoch. Nur so kurz. Niemals in dieser Kombination“. Wir verspüren ein gutes Verlangen nach Sittsamkeit und wir wollen dem mit Regeln begegnen. Bald werden wir Gefangene der Regeln; die Regeln werden unser Heil und unsere Heiligung. (Natürlich sind nicht alle Regeln schlecht. Es hat schon seine Zeit und seinen Platz über Dress-Codes zu sprechen. Aber es muss erst das Evangelium sein und dann spezifische Regeln und spezifische Anwendungen).
Paulus schrieb zu dieser Gemeinde mit einer viel besseren Lösung als Regeln. Er ist direkt zum Evangelium gegangen um ihnen zu zeigen, dass wenn sie Sünde töten wollen, wenn sie heilige Leben führen wollen, dann müssen sie das durch und mit dem Evangelium von Jesus Christus tun. Das sagt uns, dass bevor wir überhaupt anfangen, über Grenzen und Regeln nachzudenken, wir über das Evangelium und all die Freiheiten, die es bringt, nachdenken müssen. Das Evangelium befreit uns von dem Denken, dass das Befolgen von Regeln uns retten wird. Es befreit uns von dem Denken, dass Regeln tatsächlich ein Verhalten verhindern können, welches Gott hasst, oder Handeln motivieren kann, das Gott liebt. Es befreit uns dazu, aus Liebe zu anderen unsere Freiheiten zu verneinen und beiseite zu legen.
Bevor wir uns einem Text zuwenden, der direkt über Sittsamkeit spricht, möchte ich zwei Dinge besprechen: Ein kleines Gedankenexperiment und eine Definition von Sittsamkeit.
Ein Gedankenexperiment
Ich möchte anhand von drei Fragen ein kleines Gedankenexperiment probieren.
Die erste Frage: Kannst du dich unsittlich kleiden und sündlos sein? Ich denke schon. Stell dir vor, du reist in ein anderes Land. Bevor du von zu Hause losgezogen bist, hast du recherchiert und gedacht, dass du verstanden hast, wie man sich kleiden muss. Aber sobald du ankommst und den Flughafen verlässt, merkst du, dass du es vermasselt hast. Vielleicht hast du nicht verstanden, dass Frauen in der Öffentlichkeit ihren Kopf bedecken sollen; du wusstest das nicht, bist jetzt öffentlich mit unbedecktem Kopf unterwegs und ziehst geschockte Blicke auf dich. In so einem Szenario hast du nicht gesündigt, weil du aufrichtig bestrebt warst, Gott und die Leute um dich herum zu ehren. Du hast einfach nicht verstanden, wie das zu machen ist.
Die zweite Frage: Kannst du dich unsittlich kleiden und dabei sündig sein? Natürlich kannst du das. Du kannst dich in einer Art und Weise kleiden, dass du damit die Aufmerksamkeit auf deinen Körper lenkst. Du erweckst bewusst sexuelles Verlangen und ziehst Aufmerksamkeit auf dich, weil du unbedingt bemerkt werden möchtest. Du kannst das als Mann oder als Frau tun und wenn du das tust, dann bist du in deiner Unsittlichkeit sündig.
Die dritte Frage: Kannst du dich sittsam kleiden und dabei sündig sein? Ja, kannst du. Du kannst einen Leinensack tragen, der jeden Zoll Fleisch und jeden Ansatz von Form bedeckt, und doch voll von Stolz sein. Mit sittsamer Kleidung bekleidet, kannst du um dich herumschauen und andere richten. Du kannst dich sogar sittsam kleiden, aber dabei wünschen, dass andere deine Sittsamkeit bemerken, was eigentlich unsittlich ist.
Ich mache dieses kleine Experiment, weil es zeigt, dass sittsame Kleidung keine Garantie für geistliche Gesundheit oder Reife ist und dass unsittliche Kleidung keine Garantie für geistliche Krankheit oder Unreife ist. Sittsamkeit ist nicht so einfach, wie wir sie manchmal machen. Es ist eine Sache des Herzens, bevor es eine Sache der Kleidung ist – und dieses Herz ist oft trickreich und betrügerisch.
Sittsamkeit definieren
Was ist also Sittsamkeit? Wie sollten wir sie definieren? Ich glaube Sittsamkeit muss mindestens drei Dinge berücksichtigen:
Erstens berücksichtigt Sittsamkeit das Herz. Sowohl Sittsamkeit als auch Unsittlichkeit bringen etwas über das Herz zum Ausdruck. Nochmal: Sittsamkeit ist eine Sache des Herzens, bevor sie eine Sache der Kleidung ist. Das ist ein Fakt, der viel zu oft übersehen wird. Ich werde darauf mehr im nächsten Artikel eingehen.
Zweitens berücksichtigt Sittsamkeit die Situation. Was in einer Situation sittsam ist, kann in einer anderen Situation sehr wohl unsittlich sein. Wir wissen alle, dass wir uns am Strand sittsam kleiden können, aber wenn wir dieselben Sachen im Gottesdienst tragen würden, würde das furchtbar unsittlich sein. Sittliche Strandbekleidung ist sehr unsittliche Gottesdienstbekleidung.
Drittens berücksichtigt Sittsamkeit die Kultur und den kulturellen Kontext. Was in einer Kultur sittsam ist, kann in einer anderen Kultur unsittlich sein. Vor einem Jahr war ich in Indien und es wurde klar, dass die Art wie sich selbst eine sittsame Frau in Toronto zum Gottesdienst anzieht, in Indien durchaus unsittlich sein kann.
Diese drei Faktoren zeigen, warum Diskussionen über Sittsamkeit oftmals so schwierig und unbefriedigend sind. Was man für sittsam hält, ändert sich von Situation zu Situation, Kultur zu Kultur und Zeit(alter) zu Zeit(alter).
Was ist also Sittsamkeit? Für unsere Zwecke können wir sagen: Sittsamkeit ist eine Tugend, die Liebe gegenüber anderen zeigt und Gott durch angemessene Kleidung Ehre bringt.
Nach dieser Definition kann nur ein Christ wirklich sittsam sein, weil nur ein Christ bewusst die Ehre Gottes suchen kann. Ob wir es merken oder nicht, wir versuchen immer jemandem Ehre zu bringen. Durch unsere Kleidung können wir Aufmerksamkeit auf uns, oder auf Gott lenken. Das Herz der Unsittlichkeit ist eine Art des Kleidens, mit der du Selbstliebe zum Ausdruck bringst und Ehre für dich selbst in Anspruch nimmst. Unsittlichkeit ist das Verlangen, von anderen bemerkt zu werden und bereit zu sein, dafür alles zu tun, was notwendig ist.
Die Zusammenfassung des zweiten sowie der dritte Artikel werden in Kürze veröffentlicht.