Das Gespräch zwischen Jesus und der Samariterin am Jakobsbrunnen (Joh 4) ist ein Paradebeispiel für die Seelsorge. Ich möchte kurz einige Aspekt beleuchten, die mir hier wichtig erscheinen. Das erste, was in diesem Gespräch zwischen Jesus und der Samariterin auffällt, ist, dass Jesu Augenmerk auf den Menschen und seine persönliche Not gerichtet ist. Er schert sich nicht sonderlich um die damaligen Konventionen, sondern spricht als Jude mit einer Person, die zu der Gruppe der Samariter gehört. Juden und Samariter sahen sich nämlich ausschließlich in der gegenseitigen Abneigung verbunden. Auch dass er als Mann in der Öffentlichkeit mit einer Frau spricht, die nicht seine Ehefrau ist, ist höchst ungewöhnlich für die damaligen gesellschaftlichen Regeln. Jesus aber sieht den Menschen und dessen Durst nach Leben. Um dieser Not abzuhelfen, ist er bereit die gesellschaftlichen Hindernisse zu übergehen.
Das zweite, was mir hier ins Auge sticht, ist, dass Jesus bereit ist, mit einem verachteten Menschen zu reden. Die Frau kommt zur Mittagszeit zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen. Um diese Zeit meiden die übrigen Stadtbewohner die hochstehende Sonne und halten lieber das Frühmahl. Die Frau kann davon ausgehen, dass sie alleine am Brunnen sein wird. Sie meidet die Menschen, vermutlich weil diese sie aufgrund ihres unsittlichen Liebeslebens als Abschaum der Gesellschaft betrachten. Jesus aber will gerade diesem Menschen helfen, denn seine Mission konzentriert sich auf die Kranken nicht auf die Gesunden. An dieser Stelle wird mir bewusst, dass ich hier von Jesus lernen muss. Geschätzten Mitgliedern in der Gemeinde schenke ich gerne Zeit und Aufmerksamkeit. Wie anders denke und empfände ich aber, wenn ein allgemein anerkannter „Versager“ mir gegenüberstünde und ein Gespräch wünschte. Jesus macht hier deutlich, dass im Reich Gottes andere Maßstäbe als in dem Reich der Welt gelten. Hier muss ich an die Aussage Jesu aus Mk 10,43 denken: „wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein“. Vorstehen durch Dienen, das ist Jesu Prinzip für die Gemeinde.
Ein weiterer Aspekt, der Jesu Seelsorge auszeichnet, ist das Zusammenspiel von Gnade und Wahrheit. Zunächst erklärt Jesus der Frau, dass er die Quelle für ein erfülltes Leben ist, nach dem sie dürstet. Er zeigt ihr: „Hier kannst du Ruhe für deine Seele finden. Hier ist Leben, hier ist Gnade.“ Dann jedoch zeigt er ihr sensibel aber geradlinig, dass sie eine Sünderin ist, die eines Retters bedarf. Er tut es, indem er sie nach ihren Mann befragt. Korrigierend und mit dem Versuch das Thema abzuwürgen sagt sie: „Ich habe keine Mann“. Doch genau dieses Bekenntnis möchte Jesus ihr entlocken und bestätigt sie: „Du hast mit Recht gesagt: ›Ich habe keinen Mann‹ […]“ Beschämt sieht sie sich mit ihrer Sünde konfrontiert, doch diese Beschämung wird für sie zum Beginn der Heilung. Hier wird erkennbar: Wirkliche Hilfe besteht nie in Gnade, d.h. Barmherzigkeit, Freundlichkeit usw. allein. Wirklich Hilfe besteht auch nicht in Wahrheit, d.h. Konfrontation mit der Sünde allein. Biblische Seelsorge beinhaltet beides Gnade und Wahrheit. So wie der Mensch zum Gehen beide Beine benötigt, bedarf der Ratsuchende der beiden Komponenten Gnade und Wahrheit.
Diese drei ausgewählten Aspekte sind gute Leitlinien für die Seelsorge und geeignet für die Selbstreflexion: Fokussiere dich auf den Menschen, versteh dich als Diener und rede mit Gnade und Wahrheit.