Die Samariterin, die Jesus am Jakobsbrunnen trifft, ist eine Frau wie wir. Sie sucht das wahre Leben. Ihr Durst richtet sich auf ein Leben, das sinnvoll, schön, erfüllend ist. Auf unterschiedlichen Wegen versucht sie ihrem Leben diese Qualitäten zu verleihen, doch Jesus macht ihr deutlich, dass ihre Wege zum Scheitern verurteilt sind. Das was sie braucht um ein Leben dieser Güte zu bekommen, ist die Gabe Gottes.
Zuerst sucht die Frau, wir mir scheint, in der Religiosität Erfüllung zu finden. Dieser Punkt wird vermutlich für viele nicht auf Anhieb erkennbar sein. Deswegen will ich das in Kürze begründen. Theodor Zahn verweist in seinem Kommentar darauf, dass es an ihrem Wohnort Sychar zahlreiche Möglichkeiten gab Wasser zu holen. Der Grund, warum sie das Wasser von dem weiter entfernten Brunnen holt, mag wohl in der Bedeutung dieser religiösen Kultstätte zu finden sein. Zahn sagt hierzu: „Daß die Frau […] manchmal den beträchtlichen Weg von Sychar zum Jakobsbrunnen zu machen pflegte, um dort Wasser zu holen, wird in irgendwelchem Volksglauben oder Aberglauben begründet gewesen sein, welcher an dem durch die Tradition geheiligten Brunnen haftete.“[1] Auch ihr ausweichender Verweis auf die Streitfrage nach der berechtigten Gebetsstätte – Jerusalem oder der Berg Garizim – lässt erkennen, dass für sie religiöse Inhalte nicht unbedeutend waren. Auch in ihrer pathetisch anklingenden Aussage kommt die Ehrerbietung für diese Stätte zum Ausdruck: „Du bist doch nicht mehr als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben hat? Und er selbst hat aus ihm getrunken samt seinen Söhnen und seinen Herden.“ Sie sucht in der Religiosität ihre Sehnsucht nach wirklichem Leben zu stillen, jedoch findet sie das erfüllte Leben hierin nicht.
Zum zweiten sucht die Frau ihren Lebensdurst im Ausleben ihrer Begierde zu stillen. Jesus führt ihr das vor Augen, indem er sie bittet ihren Mann zu rufen. Beschämt und um das Thema abzuschneiden sagt sie: „Ich habe keinen Mann.“ Diese Aussage bestätigend, um „das Schimpfliche ihres Lebenswandels zu prägnantem Ausdruck zu bringen“[2], sagt Jesus: „Du hast mit Recht gesagt: ,Ich habe keinen Mann´; denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.“ Fünf Mal ist sie verheiratet gewesen – ob verwitwet oder geschieden ist unklar – aber das Gesamtbild, das Jesus hier zeichnen möchte, lässt die Scheidung zumindest nicht unrealistisch scheinen, denn er spiegelt ihr hier ihr unsittliches Leben. Die Frau ist im Innersten getroffen und lenkt, um ihre Betroffenheit zu überspielen, das Thema auf die Streitfrage nach der richtigen Anbetungsstätte. Als sie später ins Dorf läuft, ist diese Szene das, was sie den Nachbarn berichtet: „Kommt und seht einen Mann, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe [Herv. d. Verf.]! Sollte dieser vielleicht Christus sein?“ Jesus greift ihre Ausflucht auf und nimmt die Frage nach der Anbetungsstätte als Anlass, um auf die richtige Gebetshaltung hinzuweisen. „Gott ist Geist, und die ihn anbeten wollen, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Nicht der Anbetungsort, sondern die innere Einstellung, das Herz ist die entscheidende Komponente der Gottesverehrung.
Die Samariterin erkennt, dass weder ihre Religiostät noch ein Lebensstil, der von ihrer Lust geprägt ist, ihren Lebensdurst stillen kann. Dieser Erkenntnis hält Jesus ein Wasser entgegen, das dieses zu tun vermag. „Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird in Ewigkeit nicht wieder Durst leiden, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Wasserquelle werden, die zu ewigem Leben sprudelt.“ Doch was meint Jesus hier mit dem Wasser? Zahn verweist, um diese Frage zu beantworten, auf Joh 7,37-39, wo Jesus auf dem Laubhüttenfest ausruft: „Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da.“ [Herv. d. Verf.] Der Empfang des Heiligen Geistes und damit der Empfang des neuen Lebens ist hier die Gabe Gottes, die zum ewigen Leben sprudelt. Dies bringt Zahn dann mit folgendem Satz auf den Punkt: „Der Geist, welchen Jesus geben wird, befriedigt nicht nur das Verlangen des frommen Menschen nach dem lebendigen Gott; er bleibt auch nicht nur eine Weile in dem, der ihn empfangen hat, wie geschöpftes Wasser im Kruge oder ein toter Schatz im Kasten, sondern wird zu einer Quelle im Menschen, zum Ausgangspunkt einer neuen Lebensbewegung, welche rasch durch die kurze Lebenszeit dahinströmt, aber in ewiges Leben einmündet.“[3]
Durch das lebendige Wasser, den Geist Gottes wird der Lebensdurst der Samariterin gestillt. Die Botschaft ist für uns heute dieselbe. Das Loch in unserer Seele, das nach Sinn und Erfüllung schreit, wird nicht durch Religiosität, wie Kirchenbesuch, gute Werke oder soziale Aktivität gefüllt. Auch das Motto unserer Tage „Genieße das Leben“ – in Karriere, Sexualität, Pornographie und Spaß – ist nicht in der Lage dieses Loch zu stopfen. Der Lebensdurst wird allein durch Gott gestillt, durch das neue Leben, das er schenkt. Oder um es mit den Worten Augustinus‘ zu sagen: „Geschaffen hast du uns auf dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“
[1] Zahn, Theodor: Kommentar zum NT. S.238.
[2] Ebd. S.243.
[3] Ebd. S.242.