von Jennie Cesario
An einem herbstlichen Morgen erinnerte mich der Blick aus dem Fenster unseres Wohnzimmers an die zerzauste Nachstellung eines späten Waldfestes, ein kalter Nebel hier und da, der sich wie der Rauch von übergossenen Lagerfeuern aufwirbelte und die letzten Blätter, die sich still wie herbstliche Luftschlangen auf der frostgefärbten Erde drehten.
Die feiernden Kobolde, so stellte ich mir vor, waren irgendwo gemütlich versteckt, schliefen durch ihren berauschenden Met, ihre Pfeifen und Tanzschuhe bis zum ersten Frühlingsurlaub beiseite geschafft. Aber ich war plötzlich so schmerzlich wehmütig über meinen kleinen Hinterhofblick, so übermäßig bewegt von seiner nebligen und ungeordneten Schönheit, dass ich nicht anders konnte, als zu fragen, ob mein dampfender Tee wohl eine Tinktur ihrer Getränke enthielt.
Wie kann ich beschreiben, was ich in diesem Moment empfand? Wie kann ich euch sowohl die Annehmlichkeit als auch zugleich den Stich dieser Situation nahe bringen? Wie könnt ihr euch an das zurückerinnern, was ihr sicher irgendwann einmal selbst erlebt habt?
Diese schmerzhafte Nostalgie für etwas, an das du dich nicht mehr ganz erinnern kannst. Dieses herzzerreißende Verlangen nach etwas, das du nicht ganz benennen kannst. Diese Suche nach dem Unfassbaren, das man bis in die Knochen spüren kann.
Vielleicht beschrieb C.S. Lewis es am ehesten als eine unerklärliche Art von Heimweh, eine bittersüßes Verlangen nach einem fernen Land, das wir nie wirklich kannten. Aber wo die Sprache hier im Englischen zu kurz zu kommen scheint, haben die Deutschen ein Wort geprägt: Sehnsucht.
Ich kann mich noch erinnern, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Was für eine Erleichterung! Das Bild eines schwermütigen Gesichtes, gegen eine Fensterscheibe gepresst, war nicht mehr nur mein eigenes. Anflüge von intensiver, unerklärlicher Sehnsucht sind ein bestätigter Teil des gesunden menschlichen Zustandes, eine nachweisbare Sache. Und es gibt auch einen richtigen Namen dafür, zumindest im Deutschen. Sehnsucht. Oh, Sehnsucht! Bereits das Wort selbst lässt mich es fühlen.
Dappled Thoughts (Blog der Autorin, Anm. d. Übers.), nehme ich an, ist ein Ort, an dem ich versuche, meine Sehnsucht aufzuarbeiten und die Sprache um die Augenblicke herum zu formen, die mich zu dieser unbeschreiblichen Art von Fernweh führen. Und so habe ich hier von Gedichten, von Geschichten und von windgepeitschten alten Kathedralen geschrieben. Von den Schattenzeichnungen kahler Bäume und blühender Tulpen neben einer verwilderten kleinen Hütte. Von unberührtem Schnee im Winter und vom Schein der kerzenbeleuchteten Fenster im Herbst. Vom Duft des Meeres, dem Schleier auf dem Strauch und der unwiderstehlichen Faszination der Erinnerung und des Weges im Wald. Von Wasser und Wäldern und einer Welt, in der ich so sehr wünsche, dass sie immer so weiter geht…
Nur ohne all das Leid.
Und ohne all die Traurigkeit.
…
Die schwindenden Tage im November, kühl und dunstig, erfüllen mich oft mit einer besonders intensiven Form der Sehnsucht. Und bei Ihnen?
Letzte Woche, als ich einen Termin in der Stadt wahrnehmen musste, in der ich früher gewohnt habe, überkam es mich auf einmal, wie bei den ersten tiefen Gliederschmerzen eines Fiebers. Und dieses Mal waren keine listigen Waldkobolde daran schuld. Diesmal war es nicht nur die Szene an sich, neblig und laubwirbelnd, wie mein Hinterhof damals, sondern vielmehr die drückenden Erinnerungen an die Akteure, die einmal darauf gespielt hatten.
Im ersten Jahr unserer Ehe hatten mein Mann und ich in einer kleinen Wohnung in einem Vorstadtviertel in der Nähe gewohnt, mit einem angenehmen, waldreichen Fensterausblick, der dem jetzigen sehr ähnlich war. Damals lebten wir mit vielen Ängsten, aber auch mit so viel Liebe und als ich an unserer alten Straße vorbeifuhr, wurde ich zutiefst von dem unerfüllbaren Wunsch getroffen, in die Vergangenheit zu reisen. Ich sehnte mich mit einem hoffnungslosen Verlangen danach, diese beiden Frischvermählten fest in der Nähe zu halten, ihnen etwas Weises und Warmes ins Ohr zu flüstern und ihre chaotische Jugend zärtlich zu bemuttern, so wie ich jetzt unseren Sohn und unsere Tochter bemuttere.
Und dann schien es mir, nur für eine Sekunde, als ob ich wirklich durch die Zeit gereist wäre, als ob ich, nur für einen Augenblick, etwas von der Barmherzigkeit Jesu uns gegenüber in diesem ersten und unbeholfenem Jahr fühlte. Ich spürte damals etwas von seinem Wunsch, uns nahe zu halten und uns Weisheit zuzuflüstern, und ich erkannte, dass mein gegenwärtiger hoffnungsloser Wunsch schon längst von seiner eigenen vollendeten und früheren Realität weit übertroffen worden war.
Aber wie flüchtig das war! Und wie wechselhaft meine Gefühle! An der nächsten Ampel, gleich hinter unserer ehemaligen Straße, verdunkelte sich meine Sehnsucht schnell. Während ich mich an einem alten Ort aber zu einer anderen Zeit wiederfand, dachte ich plötzlich an all die Menschen, die einst lebten, als wir noch hier wohnten, nun aber nicht mehr da waren. Und meine Augen trübten sich über die Unrichtigkeit des Ganzen, über die Fremdheit und das Grausen.
Wie verschwinden Körper und Seelen, während die aufgesuchten Plätze einfach weiter und weiter existieren? Es ist schockierend für die Seele, wenn es einen so aus dem Nichts erwischt, selbst wenn man gerade etwas erlebt hat, das man zwar als kurze, aber unleugbare Erinnerung an die persönliche Liebe Gottes beschreiben könnte. Unsere Sehnsucht und unsere hartnäckige Suche nach Sinn und Unsterblichkeit werden, so scheint es, immer wieder durch das Zeugnis des nebelverhangenen Friedhofs am Straßenrand in Frage gestellt.
Der strenge Materialist sagt uns, dass der Tod das Ende ist. Das endgültige Ende. Aber das kann ich nicht glauben. Kann diese ganze Sehnsucht wirklich nichts bedeuten? Ist es wirklich nicht mehr als ein chemischer Fehler in unserem Gehirn, wie manche behaupten?
John Keats, dessen Texte und Dichtungen so sehr an Sehnsucht erinnern, schrieb, dass seine Sterblichkeit auf ihm lastete wie ein unfreiwilliger Schlaf und wenn wir ehrlich sind, gilt das für uns alle. Aber unsere Sehnsucht ist die Andeutung von etwas Wundersamem, das gerade außerhalb unserer Reichweite pulsiert, etwas – oder jemand –, der uns gerade jenseits des Vorhangs anstrahlt. Eine Ahnung von etwas, das die Unmittelbarkeit unserer Gegenwart berührt und darauf besteht, dass wir für etwas mehr bestimmt sind, als für den Verfall wie heruntergefallene Blätter auf dem Boden.
Kann es sein, dass sich in unserer Sehnsucht ein halber Blick auf Schechinah verbirgt, einem hebräischen Ausdruck für die Gegenwart Gottes? Und können wir durch das beschlagene Fensterglas unserer Sehnsucht schielen und die Antwort auf unsere geheimnisvollen Wünsche in dem Gesicht erkennen, das unserem eigenen ähnelt genauso wie es ihm nicht nicht ähnelt.
Nicht das Gesicht eines phantasievollen Waldgeists oder eines Gespenstes aus dem Märchen. Sondern ein Gesicht aus Fleisch und Blut. Gott wird Mensch, wie wir es an Weihnachten feiern. Jesus, unser Retter, gekreuzigt, aber auferstanden, und geduldig wartend, wie der großzügige Vater des verlorenen Sohnes, auf unsere Sehnsucht, uns nach Hause zu führen.
Übersetzt mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Der Beitrag erschien ursprünglich auf ihrem Blog „Dappled Thoughts„.