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Gedanken über Wurzeln, Heimat und Gottes Erde (3): Rod Drehers „Little Way of Ruthie Leming“

Am 15. September 2011 starb Ruthie Leming an Krebs. Von diesem Tod einer ganz „einfachen“ Schullehrerin einer kleinen Stadt in dem Südstaat Louisiana wüsste die Welt heute wohl nichts, hätte nicht Rod Dreher, ihr Bruder, zwei Jahre später The Little Way of Ruthie Leming – A Southern Girl, a Small Town, and the Secret of a Good Life veröffentlicht. Ich habe das Buch kürzlich gelesen und möchte, da es gut in meine Reihe passt, darüber berichten.

The Little Way of Ruthie Leming ist ein sehr persönliches Buch. Wie der Titel bereits andeutet, ist es natürlich ein Buch über Ruthie (ich benutze bewusst den Vornamen; „Leming“ zu schreiben, scheint mir nach der Lektüre zu sehr gekünstelt), aber genauso ist es ein Buch über Dreher und dessen langen Weg nach Hause.

Hier Drehers eigene Kurzfassung, bevor ich genauer auf das Buch eingehe:

Dreher beginnt mit seiner Kindheit in St. Francisville, die er gemeinsam mit seiner Schwester und seinen Eltern verbracht hat. Was sich relativ früh abzeichnete, waren die sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten der beiden Geschwister: Während Ruthie es liebte, draußen zu sein, zu jagen, sich handwerklich zu betätigen und ihrem Vater bei seinen Arbeiten zur Hand zu gehen, zog Dreher es vor, seine Zeit mit Büchern und vor dem Fernseher zu verbringen. Das Landleben war nichts für Dreher – seine Schwester liebte es. Die folgende amüsante Anekdote aus der Studienzeit der beiden Geschwister bringt den Unterschied auf den Punkt:

Ich studierte Journalismus, Philosophie, Politikwissenschaften und betrachtete lange, bierige Diskussionen mit meinen jungen Mitgefährten über den Existenzialismus als gut investierte Zeit. […]

Abends war sie [Ruthie] einmal mit mir und meinem besten Freund Paul am Tisch in der Cafeteria. Paul, dessen Hauptfach Politiktheorie war, und ich, meine Nebenfächer waren Philosophie und Politikwissenschaften, liebten es, über große Begriffe zu reden. An diesem Abend ging es um Nietzsche und den Tod Gottes. Ruthie hörte geduldig zu, aber schließlich verlor sie ihre Ruhe. Sie sagte uns, sie meine, das sei „der dümmste Haufen von ihr-wisst-schon-was“, den sie jemals gehört habe.

„Was stimmt mit euch allen nicht?“, fragte sie. „Hört euch doch an. Ihr sitzt hier stundenlang und redet über diesen Mist und es bedeutet gar nichts. Ihr redet nur; ihr macht nichts!“

Wir dachten das sei ein Scherz, aber Ruthie machte keine Witze.

„Ihr, ich meine das ernst,“ sagte sie. „Ich verstehe euch beide nicht. Wirklich nicht. Wem bringt das ganze Zeug, worüber ihr redet, irgendwas? Denkt ihr wirklich, dass ihr euch mit diesem Zeug über Wasser halten könnt? Was bedeutet irgendetwas von dem in der wirklichen Welt?“

Sie hörte auf nichts von dem, was wir zur Verteidigung von Philosophie und Philosophieren vorzutragen hatten. Damals dachte ich, Ruthies stacheliger Antiintellektualismus sei lustig. Ruthie wollte von Leuten wie uns so fern wir nur möglich bleiben.

Dreher entschloss sich schließlich einen Job in Washington, D.C., anzunehmen. Für ihn bedeutete es – endlich – im Zentrum der Welt zu arbeiten und wirklich wichtige Dinge zu tun. Ruthie schien es, als entscheide sich ihr Bruder für das Ende der Welt – wer würde schließlich für ihn sorgen, wenn er zum Beispiel krank würde? Man gehört doch zu seiner Familie – und da sollte man auch bleiben. Obwohl Dreher es nach seiner Zeit in Washington noch einmal versuchte, nach Hause zurückzukehren, wurde ihm klar, dass ihn das zerstören würde. Nach Hause zurückzukehren war für Dreher ein Opfer; etwas, das er für seine Familie in Betracht zog. Vor allem Drehers Vater nahm dieses aber nicht wahr, sondern verstand die Rückkehr eher als (seinen) Triumpf: Sein Sohn hatte eingesehen, wo er hingehörte. Dreher blieb nicht. In der Folgezeit arbeitete er in verschiedenen Großstädten als Journalist, gründete eine Familie und konvertierte, nachdem er sich als Teenager der Katholischen Kirche angeschlossen hatte, zur Orthodoxen Kirche.

Ruthies Krankheit begann im Sommer 2009. Nachdem ihr Vater ihr einige Peperonis gebracht hatte, begann sie beim Einatmen der Dämpfe wild zu husten – und hörte nicht mehr auf. Im Folgenden beschreibt Dreher wie schließlich Ruthies Krebs festgestellt wurde, ihr Kampf gegen diesen (sie ließ sich nie genau sagen, wie schlimm es tatsächlich um sie stand, weil ihr das den Mut zum Kämpfen nehmen würde) und schließlich ihr Erliegen am 15. September 2011.

Ruthies Krebsleiden und Sterben brachten Dreher dazu, seine heimatlichen Wurzeln in einem neuen Licht zu sehen. Dreher beschreibt eindrücklich, wie die Ortsgemeinschaft die Familie Leming während dieses ganzen Prozesses begleitet hat. Neben einem Benefizkonzert für Ruthie (bei dem 43.000 Dollar zusammenkamen) zeigten viele Nachbarn und Kollegen ihre Anteilnahme in ganz verschiedenen kleinen Liebeserweisen (Dreher berichtet von einem Mann, der erzählte, er habe in seinem Leben nie gebetet, als er von Ruthies Krankheit hörte, jedoch gleich zweimal).

Gerade die Tage nach Ruthies Ableben und der Beerdigung, machten tiefen Eindruck auf die Drehers. Während Mike, Ruthies Ehemann, bei seiner verstorbenen Frau im Krankenhaus war, brachten die Nachbarn Essen nach Hause und zeigten vor allem durch ihre Präsenz, dass sie das Leid der Familie Leming teilten. All das brachte Dreher und seine Frau zum Nachdenken. Eigentlich standen sie kurz davor in ein neues Haus einzuziehen, erhielten aber kurzfristig eine Absage (was sie überraschenderweise nicht wirklich traurig machte). Die Drehers entschlossen sich „nach Hause“ zurückzukehren.

Dreher macht klar, dass das Verfolgen individueller Wünsche und der eigenen Karriere seinen Preis hat: Familien verteilen sich in ganz Amerika, Einsamkeit ist oft die Folge. Dagegen berichtet Dreher, dass sein Vater eine Beerdigung besuchte, obwohl es ihm nicht gut ging. Die Antwort auf die Frage, warum er denn unbedingt zu dieser Beerdigung müsse, lautete schlicht und einfach: Respekt. Es handelte sich um eine Familie, die schon lange auf diesem Land lebte, was die Anwesenheit bei der Beerdigung, in diesem Denken, selbstverständlich machte. Die sozialen Gemeinschaftsbande, die Dreher als Teenager oft unterdrückten und denen er entfloh, waren die Bande, die Ruthies Familie zusammenhielten und in der schweren Zeit Stabilität verliehen.

The Little Way of Ruthie Leming ist kein nostalgischer Ruf „nach Hause“; Dreher fordert nicht dazu auf, Städte hinter sich zu lassen und um jeden Preis ländliche Wurzeln zu schlagen. Was aber deutlich wird, ist die Wichtigkeit von Heimat, Familie und Gemeinschaft – und das diese Dinge auch ihren Preis haben. Aber auch ländliche Gemeinschaften dürfen nicht romantisiert werden (Ruthie gegenüber hat St. Francisville seine besten Seiten gezeigt).

In seinem letzten Kapitel macht Dreher deutlich, dass unsere Berufung, unser Ziel, niemals ein Ort ist. In einem tiefgehenden (und zur Versöhnung führenden) Gespräch mit seinem Vater, eröffnete dieser Dreher, dass er (Drehers Vater) St. Francesville als junger Mann hätte verlassen sollen. Dreher war erstaunt, schließlich schien sein Vater sein Leben als Journalist doch nie richtig verstanden zu haben. Vater Dreher eröffnete seinem Sohn, dass er von seiner Familie oft ausgenutzt wurde, selber eine schwierige Beziehung zu seinem Vater hatte und auch seine Frau viel unter seiner Familie ertragen musste. Allerdings habe er sich dem Land gegenüber so verpflichtet gefühlt, dass er nicht den Mut aufbrachte, dieses Leben hinter sich zu lassen (das Land wurde zum Götzen). Sein Sohn habe damals die richtige Entscheidung getroffen und auch wenn er sich dafür entscheide, das Familienland, sein Erbe, zu verkaufen, habe er dafür den Segen seines Vaters. Dreher bereut seine Rückkehr nach St. Francisville nicht, macht aber auch klar, dass er nur darum zurückkehren konnte, weil er zuvor gegangen war.

Rod Drehers Buch regt zum Nachdenken an, weshalb es auch gut in meine „Gedanken über Wurzeln, Heimat und Gottes Erde“ hineinpasst. Was macht eigentlich ein gutes Leben aus? Ruthie hat, das wird im Laufe des Buchs klar, das Leben ihres Bruders nie wirklich ganz verstanden (man muss nur die Cafeteria-Szene zu Ende denken). Dreher dagegen hätte sein Leben nicht nach Ruthies Vorstellungen ausrichten können. Wer hat besser gelebt? Wahrscheinlich ist das die falsche Frage, dennoch muss man (vielleicht auch in der eigenen Familie) mit derartigen Unterschieden irgendwie umgehen und fertig werden.

Ruthies (oder Rod Drehers?) Geschichte ist aber auch – vielleicht sogar in besonderer Weise – für meine (und die vieler Leser) russlanddeutsche Perspektive interessant. Russlanddeutsche Gemeinden und Gemeinschaften tendieren, glaube ich, dazu, etwas von der Zusammengehörigkeit widerzuspiegeln, die in ländlichen Gegenden zu finden ist und wie sie von Dreher beschrieben wird. Wir Russlanddeutsche stammen meist aus großen Familien, haben noch größere Verwandtschaften und besuchen alle gemeinsam noch größere Gemeinden. Auch sind russlanddeutsche Gemeinschaften oft so stark, dass man, wenn es nicht unbedingt sein muss, in der Regel nicht wegzieht – was sicher auch damit zusammenhängt, dass die „Lebensvision“ vieler Russlanddeutscher eher der von Ruthie als von Dreher gleicht (dieses bitte nicht als negative Wertung lesen!).

Die sozialen Gemeinschaftsbande, die Rod Dreher als Teenager verspürt hat und die ihn niedergedrückt haben, kennt sicher auch manch ein Russlanddeutscher (wenn auch in anderer Form). Gleichzeitig – und das möchte ich betonen – wird aber auch die Stabilität produziert, die die Familie Leming durch schwere Zeiten begleitet hat (und diese Schönheit von Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit und intakten Familien sollte man nicht leichtfertig übersehen).

Dennoch bleibt die Frage: Wie gehen wir als Russlanddeutsche mit all Diesem am besten um? Wie schaffen wir es, unser unglaubliches Potenzial in unseren Familien, Verwandtschaften und Gemeinden so zu leben, dass die positiven Aspekte hervorgehoben und die negativen möglichst klein gehalten werden? Ich habe darauf keine vorgefertigten Antworten – wenn ich aber zum Nachdenken anregen konnte, habe ich mein Ziel erreicht.

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