Im Jahr 2014 hat Jeremy Begbie die C.F.D. Moule Memorial Lecture in der Ridley Hall, Cambridge, gehalten. Begbies Forschungsinteresse ist das Zusammenspiel von Theologie und Kunst, vor allem von Musik und Theologie. Begbie, der in den westlichen Kirchen einen Trend beobachtet, der das Konzept des „Mysteriums“ und des „Geheimnisvollen“ (mystery) neu ins Zentrum der Anbetung rücken möchte, weist (korrigierend) darauf hin, dass derartige Bemühungen den neutestamentlichen Begriff des mysterions erst nehmen und von diesem geleitet werden müssen. Wie soll die Kirche Christi das Mysterium des Glaubens verkündigen? Welche Rolle können dabei Kunst und Musik in der Anbetung (worship) spielen?
Das sind die Fragen, mit denen sich Begbie in seiner Vorlesung auseinandersetzt. Diese hat mich sehr beeindruckt, weshalb ich sie hier zusammenfassen möchte. Es geht mir weniger darum, Begbie wortgetreu wiederzugeben, sondern darum, den Inhalt seiner Vorlesung hilfreich und übersichtlich aufzubereiten. Hier zunächst die ganze Vorlesung, die natürlich inhalts- und beispielreicher ist als meine Zusammenfassung:
Kontext
Woher kommt das Verlangen nach dem Mysterium, dem Geheimnis(vollen)? Ein Grund ist wohl der heutzutage vorherrschende Naturalismus, der alles rational erklären möchte und nichts unerforscht lässt; die „Entzauberung der Welt“ ruft Gegenreaktionen hervor. Gerade die Künste wehren sich – verständlicherweise – gegen eine derartige Verengung, die die Welt als geschlossenes System betrachtet.
Ähnliches kann der Kirche passieren: Ultrareformierte Geistliche können den Eindruck vermitteln, alles mit rationalen Worten erklären zu können, bei denen nichts Geheimnisvolles mehr übrigbleibt (Begbie erinnert sich an einen solchen Ultrareformierten, der ihm das Problem der Mystik, mysticism, erklärte: sie beginne mit mist, Nebel, und ende in schism, Kirchenspaltung); die Reaktion auf einen solchen reformierten Rationalismus kann dann eine Hinwendung zu Anbetungsgottesdiensten sein, die gar keinen Inhalt mehr bieten und in denen man lediglich in musikalischer „Gotteserfahrung“ versinkt.
Mysterium im Alltag und das neutestamentliche mysterion
Die biblische Verwendung des Begriffs mysterion, so Begbie, zeigt auf, dass dies nicht die einzigen Optionen sind. Begbie geht zunächst auf vier Alltagsbedeutungen des Begriffs ein:
(1) Verborgenheit – z.B. in der Kunst des Modernismus: ohne Bildtitel und Künstlername wissen wir nicht, worum es geht
(2) Unbegreifbarkeit – z.B. die Relativitätstheorie: sie ist einfach zu groß für (viele von) uns
(3) Ambiguität – manche Phänomene lassen sich in mindestens zwei Richtungen interpretieren
(4) Paradox – wenn zwei Dinge gegenübergestellt werden, die dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen scheinen: C.S. Lewis schrieb seinem Patenkind, eines Tages werde es wieder alt genug sein, um Märchen zu lesen.
Alle diese Bedeutungen spielen eine Rolle in der Anbetung, müssen aber vom Zentrum, nämlich vom neutestamentlichen mysterion, getragen werden. Begbie erwähnt zwei Kirchentraditionen, die mysterion jeweils anders denken:
Negative Theologie
Das Mysterium Gottes besteht hier gerade darin, dass wir es nicht erkennen und nicht darüber reden können. Wir als Menschen haben keinen direkten Zugang zu Gott, sondern können nur wissen, wie er uns erscheint; wir sind beschränkt und es wäre arrogant, etwas anders zu behaupten; in der Anbetung können wir Gott erfahren, ihm aber nicht direkt begegnen. Auch können wir von Gott nicht in angemessener Weise sprechen; wir können immer nur sagen, wie Gott nicht ist, niemals wie er ist. Musik in der Anbetung kann gerade für diese Tradition sehr wichtig sein, vermittelt Musik doch gerade das Unsagbare, das Unerkennbare.
Das mysterion bei Paulus
Der Begriff mysterion kommt im Neuen Testament 27 Mal vor. Interessanterweise geht es hier aber gerade nicht um das Unerkennbare oder das Unsagbare, sondern um das Geoffenbarte, um das zu Verkündigende. Paulus spricht im Epheser-, Kolosser- und 1. Korintherbrief vom mysterion als von Gottes Errettungsplan der Welt durch und in Christus: alles soll in Christus vereint werden. Im Epheserbrief geht es um das Zusammenbringen von Juden und Heiden in Christus; im Kolosserbrief ist Christus das mysterion Gottes; und im 1. Korintherbrief liegt das mysterion im gekreuzigten Christus.
Aber wozu braucht es dann das Geheimnisvolle, warum mysterion? Es ist das mysterion Gottes, nicht weil es verborgen bleiben muss, sondern weil es offenbart werden musste – weil wir von uns aus niemals darauf kämen! Hier zeichnet sich ein starker Kontrast zur negativen Tradition ab: Das mysterion ermöglicht uns den direkten Zugang zu Gott, dem wir in Christus tatsächlich so begegnen. Ebenfalls im Gegensatz zur negativen Tradition gebraucht Gott Worte für die Verkündigung des mysterions. Es gibt etwas darüber zu sagen, wer und wie Gott ist.
Der erste Schritt, das Mysterium in der Anbetung hochzuhalten, ist also der Predigt des mysterions einen zentralen Platz einzuräumen. Aber was ist mit den vier anderen Aspekten, die der Begriff des Mysteriums ja auch beinhaltet? Auch diese haben ihren Platz in der Anbetung, allerdings erst, wenn das Zentrum des mysterions tatsächlich auch zentral ist: nämlich Christus. Wenn das nicht der Fall ist, werden pseudo-Mysterien erfunden, wo keine sind; pseudo-Philosophien, die ein falsches Zentrum haben; und pseudo-Götter, die wenig mit dem Gott Jesus Christus zu tun haben.
Christuszentrierte (Alltags)Mysterien
Die vier bereits erwähnten Alltagsbedeutungen von Mysterium können nun, da das Zentrum in Christus gesetzt ist, ebenfalls eine Rolle spielen. Begbie geht noch einmal auf die vier Bedeutungen ein:
(1) Verborgenheit – allerdings nicht irgendeine, sondern die Verborgenheit des mysterions. Diese Verborgenheit liegt gerade darin, dass wir von uns aus nicht in der Lage sind, dieses Geheimnis zu erkennen; es musste uns gezeigt, geoffenbart werden. Es geht darum, dass uns mitgeteilt wird, was Gott mit dieser Welt vorhat; und genau das hat Gott in Christus getan. Allerdings liegt auch diesem Zeigen eine Verborgenheit inne: Gott muss uns Ohren geben, um zu hören, Augen um zu sehen; ohne Heiligen Geist kann Gottes Heilshandeln nicht begriffen werden.
(2) Unbegreifbarkeit – aus dem (begreifbaren) mysterion Christi erkennen wir, dass wir Gott niemals fassen können, ihn niemals „besitzen“ können. Gott ist tatsächlich in der Hinsicht unbegreifbar, dass wir seine Gnade niemals begreifen können; in derselben Weise ist auch seine Gabe unaussprechlich: Es bedeute nicht, dass wir nichts darüber sagen können, sondern dass alles was wir sagen, von der Realität diese Gabe weit übertroffen wird. Hier kann auch die negative Theologie einen wertvollen Beitrag leisten, denn sie erinnert uns eben daran, dass wir Gott nicht letztendlich fassen können. In der Anbetung kann (Instrumental)Musik tatsächlich helfen, diese Unsagbarkeit zum Ausdruck zu bringen (solange das Evangelium im Zentrum bleibt).
(3) Ambiguität – die Juden zur Zeit Jesu lebten in einem Zeitalter, in dem sie unterdrückt wurden, hofften aber auf Gottes neue Weltordnung; auf das Zeitalter Gottes, in dem Israel zur alten Größe zurückfindet, in dem Gottes Geist regiert. In Römer 8 spricht Paulus dann davon, dass Gottes Zeitalter tatsächlich schon begonnen hat: Einer wurde schon auferweckt und ebendieser gießt auch schon seinen Geist aus! Gottes neues Zeitalter hat schon begonnen, wir können jetzt schon darin leben; und in der Tat leben wir genau in der Überlappung dieser beiden Zeitalter. Ja, wir leben in Gottes neuem Zeitalter – und doch seufzt die Schöpfung und sehnt sich nach Erlösung. Das zeigt sich ganz praktisch: Wir erleben großartige Gebetserhörungen – und erfahren vielleicht am selben Tag von einem Schicksalsschlag in der Familie; ein Kind wird geboren – ein geliebter Mensch stirbt. Welches Zeitalter ist es denn jetzt? Welches ist real? Ja, die Auferstehung hat das letzte Wort, aber dennoch ist der Schmerz nicht weniger real. Diese Ambiguität kann Kunst in der Anbetung kraftvoll zum Ausdruck bringen (Begbie erinnert sich an das Kunstwerk Tree of Life, das den Baum des Lebens mit Bürgerkriegswaffen nachgebaut hat und die Ambiguität unser Zwischenzeit sehr gut auf den Punkt bringt).
(4) Paradox – das mysterion Gottes ist, wenn man so will, ein großes Paradoxon; Dinge, die nicht zueinander passen wollen, werden gegenüber gestellt: Ein ermordeter Messias bildet das Zentrum des geoffenbarten mysterions; das Kreuz ist Gottes Weisheit; ein verwundetes Lamm regiert die Welt. Möchte man das Mysterium in der Anbetung berücksichtigen, muss dieses Paradox berücksichtigt werden. Die Frage lautet, wie man das Evangelium zunächst „fremd“ machen kann (das Paradoxe muss deutlich werden) und gleichzeitig attraktiv kommunizieren kann – denn das Evangelium ist gerade das: unglaublich befremdlich und unglaublich attraktiv zur gleichen Zeit.
Bibellesen mit dem mysterion im Zentrum
C.F.D. Moule hat die Entstehung des Neuen Testaments einmal folgendermaßen beschrieben: Das Kommen Christi habe eine große Explosion bewirkt, die einen Krater in die Geschichte geschlagen hat; das Neue Testament ist aus dem Wind und dem Staub entstanden, die in der Folge der Explosion aufgewirbelt wurden. Moule, erklärt Begbie, hat die Bibel so gelesen: Er ist den Texten immer bis zu ihrer Energiequelle gefolgt: dem lebendigen Gott in Jesus Christus.
Einer der letzten Sätze Begbies gefällt mir persönlich besonders gut: „To put it more bluntly“, sagt er über Moules Art die Bibel zu lesen, „he insisted on reading the Bible as if Jesus Christ were alive and really mattered“ („Einfach ausgedrückt: Er bestand darauf, die Bibel so zu lesen, als sei Christus lebendig und wirklich von Bedeutung“). Was mir an dieser zusammenfassenden Aussage so gefällt, ist ihre selbstverständliche Einfachheit, in der gleichzeitig eine unglaubliche theologische Tiefe liegt. Natürlich, so muss man die Bibel lesen, ist doch ganz klar; aber warum ist diese Art des Bibellesens im Alltag dann doch so schwer? Kann es sein, dass wir das mysterion Gottes (neu) entdecken müssen?!