In meinem letzten Beitrag habe ich in groben Zügen die historische Herausbildung und den Aufbau des Kirchenjahres nachgezeichnet. An dieser Stelle möchte ich nur drei Gründe anführen, weshalb es Sinn macht, dem Kirchenkalender im (gemeindlichen) Alltag mehr Raum zu geben.
- Das Kirchenjahr bettet das (kalendarische) Jahr in einen biblisch-theologischen Rahmen.
Wie aus dem letzten Beitrag hervorgeht, orientiert sich das Kirchenjahr an der zentralen Offenbarung Gottes in der Geschichte der Menschheit: nämlich dem Kommen seines Sohnes. Angefangen von der Verheißung des Messias, über dessen Menschwerdung, Sterben und Auferstehen bis hin zur Himmelfahrt steht die Offenbarung des neuen Bundes in Christus im Zentrum des christlichen Kalenders. Aber auch die Trinitatiszeit erklärt sich im Rückblick auf das Erscheinen des Christus: Die Kirche Jesu Christi lebt nun, durch seine Auferstehung ermöglicht und zugerüstet durch den Heiligen Geist, ein qualitativ neues Leben als Volk Gottes auf Erden. Gleichzeitig lebt sie auf die zweite Erscheinung ihres Herrn hin: Hier beginnt der Zyklus des Kirchenjahres wieder neu. So wird die Geschichte des eigenen Lebens jedes Jahr neu im Lichte der Geschichte Gottes mit den Menschen gelebt. Sie umfasst das eigene Lebensjahr.
- Das Kirchenjahr verleiht der Person Jesu Christi den zentralen Platz im Leben.
Das Kirchenjahr legt den Fokus auf das Leben von Jesus. Jedes Jahr aufs Neue durchlebt der Gläubige dadurch die zentralen Stationen des Lebens seines Herrn. Dadurch erhält die Person Jesus den zentralen Raum im Leben des Einzelnen, der ihr zusteht. Coram Deo zu leben kann dadurch eine wesentliche Stütze erhalten: Die Identifikation mit dem Leben und Werk Jesu, wie sie uns bei Paulus z.B. in Römer 6 oder Kolosser 2-3 begegnet, wird dadurch greifbarer.
- Der Kirchenkalender gewährleistet, dass zentrale Bibelworte systematisch Aufmerksamkeit bekommen.
Mit der Herausbildung des liturgischen Jahres ging auch die Auswahl und Systematisierung sogenannter Perikopen einher: Perikopen sind zentrale Bibeltexte, die für die Verlesung im Gottesdienst vorgesehen sind. Schon seit dem fünften Jahrhundert entstanden in diesem Zusammenhang Textsammlungen, die ausgewählte Bibelabschnitte passend zu den jeweiligen Festtagen im Kirchenjahr sammelten und sortierten: die Perikopenbücher. In der katholischen Kirche werden die gottesdienstlichen Perikopen an den Sonntagen in einem dreijährigen Turnus vorgelesen, sodass innerhalb von drei Jahren die biblische Botschaft mithilfe zentraler Bibelstellen durchschritten wird. In der evangelischen Kirche in Deutschland ist die Sache etwas komplizierter: Hier gibt es inzwischen sechs gebräuchliche Perikopenreihen. Dabei ist an jedem Sonn- und Feiertag eine Lesung aus den Evangelien, den Episteln und dem Alten Testament vorgesehen. Die Texte kommen dabei aus drei unterschiedlichen Perikopenreihen, die zyklisch wechseln: So stammten die drei Texte am ersten Advent aus den Perikopenreihen I-III, am zweiten Advent aus den Reihen II-IV usw. In jedem Kirchenjahr stammt der Predigttext aus einer festgelegten Perikopenreihe. Im aktuellen Kirchenjahr 2019/20 ist dies z.B. die Perikopenreihe II. In der gottesdienstlichen Praxis entscheidet aber in der Regel der jeweilige Pfarrer, ob und wie er die Perikopenordnung im Gottesdienst berücksichtigt.
Unabhängig von der Konfessionszugehörigkeit ist mir die Idee und Systematik der Perikopenordnungen sympathisch: Sie verleiht dem Gottesdienst nicht nur einen schönen liturgischen Rahmen, sondern stellt das Wort Gottes in das Zentrum das Gottesdienstes und gewährleistet (zumindest im Ideal), dass die Gemeinde innerhalb eines (oder mehrerer) Jahr(e), den gesamten roten Faden der Bibel entlangschreitet.
Wer sich, angeregt durch die beiden letzten Beiträge, mehr mit dem Kirchenjahr im eigenen (oder auch im gemeindlichen) Leben auseinandersetzen möchte, sei zum Schluss noch auf die von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands gemeinsam verantwortete Internetseite Kirchenjahr evangelisch verwiesen. Hier findet man einen Festkreis, der zu jedem Sonn- und Feiertag des aktuellen Kirchenjahres kurze Informationen, einen ebenso kurzen Impulstext, den jeweiligen Predigttext und die Perikopen liefert. Auch wenn der Impulstext zuweilen inhaltliche und theologische Tiefe vermissen lässt, scheint mir das gesamte Konzept doch wertvoll zu sein. Kirchenjahr evangelisch ist auch als App für Android und iOS erhältlich.