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„Herr, erhalte mein Gedächtnis frisch!“

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John Leech, Radlaw and the phanton (Bildquelle: The Charles Dickens Page)

Leid und Schwierigkeiten gehören zu jedem Leben dazu. Sehr oft sind wir selbst die Ursache für Leid im Leben unseres Nächsten. Gleichzeitig erfahren wir Leid von anderen. Wie aber sollen wir damit umgehen? Sollen wir es vergessen? Verdrängen? Oder ständig mit uns herumtragen? Welche Rolle spielt dabei die Erinnerung?

Gegen Ende des letzten Jahres habe ich wieder einmal zu Charles Dickens Weihnachtserzählungen gegriffen und die Erzählung „Der verwünschte Mann“ gelesen. Bei diesem handelt es sich um Mr. Redlaw, einem verbitterten Chemiker, der ein Unrecht, das ihm in seiner Jugend angetan wurde, nicht vergessen kann, was ihm einen düsteren und verbitterten Blick auf das Leben beschert. Am Heiligen Abend wird er von dem Ehepaar Milly und William Swidger, der auch seinen Vater Philipp dabeihat, besucht. Philipp ist 87 Jahre alt und erinnert sich gerne an einen Spruch, den er unter einem Bild gelesen hat: „Herr, erhalte mein Gedächtnis frisch!“ Und erinnern kann sich Philipp an vieles, trotz seines hohen Alters. Mr. Redlaw hat dafür nur Verachtung übrig, bereiten die Erinnerungen an vergangenes Unrecht doch nur Leid. Später wird Mr. Redlaw von einem Geist besucht, gewissermaßen von einem Phantom seiner selbst, das mit ihm über seine Vergangenheit spricht und ihm eine verhängnisvolle Gabe anbietet: nämlich den Verlust der Fähigkeit, sich an vergangenes Unrecht zu erinnern. Außerdem erhält er die Fähigkeit, diese Gabe zu verbreiten. Mr. Redlaw akzeptiert.

Im Folgenden wird klar, welche verhängnisvollen Folgen der Erinnerungsverlust mit sich bringt. Mit dem Verlust der Erinnerung an Leid und Unrecht verlieren die Menschen, mit denen Mr. Redlaw in Kontakt kommt, auch jegliche Fähigkeit des Mitleids, des Mitgefühls und der Reue. So wird zum Beispiel Philipps Sohn Georg, der aufgrund eines sündigen Lebens sterbenskrank im Armenhaus liegt und dort von seinem Vater und Bruder William besucht wird, der Reue plötzlich unfähig, als Mr. Redlaw, der ebenfalls dort auftaucht, sich zu ihm gesellt und ihm die Fähigkeit nimmt, sich an (sein) Unrecht zu erinnern. Georg wird hart, weist die ganze Gesellschaft hinaus und auch William und Philipp beginnen einen Streit, da sie jegliche Zuneigung zueinander verlieren.

Mr. Redlaw erkennt die furchtbaren Auswirkungen der von ihm verbreiteten Gabe und fleht den Geist an, ihm doch zumindest die Fähigkeiten zu nehmen, diese zu verbreiten, wenn auch er selbst sein Gedächtnis nicht zurückerhalten kann. Der Geist befiehlt ihm, sich an Williams Frau Milly zu halten, deren herzliches und liebevolles Wesen dann tatsächlich den Bann bricht. Für Mr. Redlaw (und uns) hält sie eine wichtige Wahrheit bereit:

„Ich bin nicht gelehrt, und Sie sind es so sehr“, sagte Milly; „ich bin nicht gewohnt zu denken und Sie denken immer. Darf ich Ihnen sagen, warum es mir gut scheint, sich des Unrechts zu erinnern, das uns widerfahren ist?“

„Ja.“

„Damit wir es verzeihen können.“

„Vergib mir, großer Gott“, sagte Redlaw mit einem Blick gen Himmel, „daß ich dein eigenes hohes Vorrecht verschmäht habe!“

„Und wenn“, fuhr Milly fort, „Ihr Gedächtnis eines Tages wieder erstehen sollte, wie wir hoffen und beten, wäre es dann für Sie kein Segen, gleichzeitig an ein Unrecht und seine Verzeihung zu denken?“

Mr. Redlaw erhält – wie sollte es in einer Dickens-Weihnachtserzählung auch anders sein – die Fähigkeit zurück, sich an vergangenes Unrecht zu erinnern – und erinnert sich darüber hinaus an den, dessen Andenken uns erst dazu befähigt, vergangenes Unrecht zu vergeben:

Redlaw sank mit einem lauten Ruf auf die Knie.

„O du“, sagte er, „der mir durch die Lehre reiner Liebe in Gnaden das Gedächtnis wiedergegeben hat, das zugleich das Gedächtnis an den Erlöser am Kreuz und an alle Guten ist, die für ihn gestorben sind, nimm meinen Dank und segne sie!“

Die Erinnerung an vergangenes Leid, das zeigt „Der verwünschte Mann“, sollte uns weicher machen, mitfühlend und Mitleid wecken. Mr. Redlaw gelobt, sich um einen Straßenjungen zu  kümmern, der ihm zu Beginn begegnet und auf den sich seine Gabe interessanterweise nicht übertragen kann – was daran liegt, dass der Junge in seinem ganzen Leben so schlecht behandelt wurde, ja, geradezu tierisch aufgewachsen ist, dass sich in ihm nicht einmal die Erinnerungen herausbilden konnten, die Mr. Redlaw zu Beginn aufgegeben hatte.

Diese Gesellschaftskritik ist natürlich vor allem vor der „sozialen Frage“ des 19. Jahrhunderts zu lesen, doch spricht Dickens’ Erzählung auch in unsere Zeit. Das Leid, das Gott (durch andere Menschen) in unserem Leben zulässt, ist eine Chance: eine Chance zu vergeben, in der Heiligung zu wachsen und schließlich tatsächlich durch das Leid gebessert zu werden. Das geht aber wohl nur, wenn wir die Erinnerungskultur pflegen, zu der Paulus uns aufruft: „Halte im Gedächtnis Jesus Christus, auferweckt aus den Toten, aus dem Samen Davids, nach meinem Evangelium“ (2. Tim. 2,8). In diesem Sinne sollten wir uns Philipps Gebet zu eigen machen: „Herr, erhalte mein Gedächtnis frisch“.

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