In vielen russlanddeutschen Gemeinden gibt es die Tendenz, den Stand der persönlichen Heiligkeit anhand äußerer Merkmale festzulegen. Wenn man sich an bestimmte Kleidungsvorschriften hält, ausgewählte Medien meidet und eine gewisse Zurückgezogenheit aus der „Welt“ praktiziert, ist man geistlich gesehen „auf einem guten Weg“. Selbst die persönliche Stille Zeit gerät dabei schnell zu einer weiteren bloßen Äußerlichkeit, die es zu erfüllen gilt.
Das folgende Zitat von R. C. Sproul aus Die Heiligkeit Gottes zeigt, dass dies aber keineswegs ein „russlanddeutsches“ Problem ist, sondern jeder Christ in der Gefahr steht, sich mit einer billigen Gerechtigkeit zufriedenzugeben. In Anlehnung an Römer 12,1–2, wo Paulus die römischen Christen dazu auffordert, nicht „gleichförmig dieser Welt“ zu sein, schreibt Sproul:
Eine oberflächliche Art, sich nicht an die Welt anzupassen, ist die allseits bekannte Fußangel des Pharisäertums. Beim Reich Gottes geht es nicht um Knöpfe, Kinobesuche oder Tanzvergnügungen. Die Belange Gottes drehen sich nicht um Essen und Trinken. Bei der Berufung zu einem christlichen Lebensstil in Abgrenzung von der Welt geht es stattdessen um eine viel tiefgründigere Gerechtigkeit, die über die äußerlichen Dinge weit hinausgeht. Wenn man Frömmigkeit ausschließlich anhand von Äußerlichkeiten definiert, geht man an der Lehre der Schrift vorbei […]. Wer dies tut, dem ist entgangen, was Jesus sagen will, wenn er seinen Zuhörern erklärt, dass nichts von dem, was in den Mund hineingeht, den Menschen verunreinigt, sondern das, was aus dem Mund herauskommt. Wir wollen das Reich Gottes oft nur noch auf „Essen und Trinken“ beschränken.
S. 195
Auf die Frage, warum wir als Christen dazu neigen, Geistlichkeit anhand irgendwelcher (selbstgewählter) Äußerlichkeiten zu definieren, schreibt Sproul:
Die einzige Antwort, die ich geben kann, ist: Es liegt an der Sünde. Was wir für Kennzeichen der Frömmigkeit halten, kann in Wirklichkeit letztendlich Gottlosigkeit unter Beweis stellen. Wenn wir uns vorwiegend bei Kleinigkeiten aufhalten und unbedeutende Belanglosigkeiten überbewerten, äffen wir die Pharisäer nach. Wenn wir Nebensächlichkeiten zum Prüfstein der geistlichen Gesinnung erheben, setzen wir eine billige Moral an die Stelle echter Gewissenhaftigkeit. Wir tun das, um die tiefer gehenden Fragen im Blick auf praktische Gerechtigkeit zu verdunkeln. Jeder kann gewisse Nebensächlichkeiten vermeiden. Das erfordert keine moralische Anstrengung. Viel schwieriger ist es, die Zunge im Zaum zu halten, rechtschaffen zu handeln und die Frucht des Geistes hervorzubringen. […] Wer wirklich „gegen den Strom schwimmt“, ist ein Mensch, der sich nicht nach seinen Begierden richtet, der aufhört, Schlechtes über andere zu reden, der seine Faulheit aufgibt, der aufhört, zu hassen und bittere Gefühle zu nähren, und der die Frucht des Geistes in seinem Leben wachsen lässt.
S. 195f.