Peter M. Friesen ist der erste, der den Versuch unternommen hat, ein Geschichtswerk über die Russlandmennoniten abzufassen. In einer 25 Jahre dauernden Arbeit sammelte er Dokumente aus der Mennonitengeschichte, schrieb eigene Texte und verband beides in seinem zweibändigen, 1911 herausgegebenen Werk Geschichte der Alt-Evangelischen Mennoniten Brüderschaft in Russland[1]. Vor allem die Sammlung von Primärtexten bietet dem Interessenten eine reiche Fundgrube für allerlei (auch aktuelle) Fragestellungen, wie plurale Ältestenschaft, Fußwaschung, Taufe usw.
Seine gesamte Arbeit stand, wie er im Vorwort ausführt, unter zwei Warnungen, „die der Gott meines Lebens mir vor dem Schreiben dieses Buches werden ließ“: Die erste gab ihm ein aus Rücksicht anonym gelassener Mennoniten-Bruder mit den Worten: „Also Du wirst nun unsere ‚Geschichte‘ schreiben und gründlich nachweisen, dat wie dat ganz Rachte hawen, on de Kark [die Kirchlichen, AW] ehre Sach nuscht es!“ Die zweite entstammte dem Munde eines gewissen Jakob Reimers, der an ihn appellierte: „Schreibe wahr, Gutes und Böses, so wie die Bibel über David!“ Den ersten Appell buchte Friesen unter „Warnung“ den zweiten unter „angestrebtes Ziel“ ab. Das diese Arbeit eine Herausforderung war, wenn man nicht an der ein oder anderen Stelle als Nestbeschmutzer gelten wollte, ist naheliegend.
Einen Gewinn, den ich aus diesem Nachschlagewerk ziehe, ist die Erkenntnis, dass viele unserer heutigen Themen keine brandneuen sind, sondern schon vor Jahrzehnten, wenn nicht gar Jahrhunderten diskutiert wurden. Ein Beispiel, das mir zuletzt unter die Augen kam, möchte ich hier anführen. In seinem Kapitel über die Molotschna Kolonie fasst Friesen einige „kirchliche[.] Eigenarten“ der Gnadenfelder Gemeinde zusammen und sagt dort:
Bemerkenswert in diesen Bekenntnissen sind […] folgende Züge: Die „schwere“ Wahrheit von Gnadenwahl und freiem Willen, welche im alten „Flämischen“ Bekenntnis etwas einseitig arminianisch (nach der Seite des freien Willens) gefaßt, im „Friesischen“ übergangen ist, findet eine vorsichtige, milde Vermittlung.
(Dazu muss man wissen, dass sich zwischen den Friesen und den Flamen die erste Trennungslinie innerhalb der Mennoniten in Westpreußen bildete. Salopp definiert waren die Friesen die freudigeren und freieren Gläubigen, die Flamen hingegen die ernsteren und zurückgezogeneren. Ihre Namen verweisen zudem auf die Region [Flandern bzw. Friesland], aus der sie aufgrund der Verfolgung Richtung Preußen geflohen waren.)
Schon im 19. Jahrhundert stellte sich den Leitern der Mennonitengemeinde die Frage, wie die Erwählung der Gläubigen vor Grundlegung der Welt (Eph 1) und der Appell an den Menschen, Buße zu tun und an das Evangelium zu glauben, zu vereinbaren sind. Diese Fragestellung kann demnach auch für mennonitische Verhältnisse nicht als modernes Thema gelten, das ausschließlich der Diskutierfreudigkeit der gegenwärtigen Generation entspringt. Diese Frage haben bereits unsere Vorväter erkannt und nach ihrem besten damaligen Wissen behandelt.
Also, es gibt wenig Neues unter der Sonne. Wenn wir das vermeintlich Neue als bereits Gewesenes erkennen, verliert es womöglich in manchen Augen das Bedrohliche, das dem Neuen nun einmal eigen ist. Vermutlich bin ich nicht der einzige, der im Diskurs mit einem schon betagten Gesprächspartner das Sackgassen-Argument zu hören bekam: „damals hat man uns das so gelehrt“ oder „früher war das so“. Hier öffnen derartige Passagen vielleicht einem Gespräch die Tür, denn dieses Thema hat es damals auch schon unter uns Mennonitenbrüdern gegeben und die Antworten waren zu unterschiedlichen Zeiten auch verschieden. Zudem kann uns die Betrachtung des Alten einen anderen Blick auf unsere gegenwärtigen Fragen geben und zusätzliche Handlungsoptionen eröffnen. Wir stehen auf den Schultern der vorangegangenen Generationen. Dessen dürfen wir uns wertschätzend bewusst werden und uns dies heute zu Nutze machen.
[1] Peter M. Friesen: Geschichte der Alt-Evangelischen Mennoniten Brüderschaft in Russland. Reprint Göttingen 1991.