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Russland-Mennoniten

Angekommen?!

Vor 50 Jahren begann die Rückkehr der Russlanddeutschen nach Deutschland. Andy hat den zu diesem Anlass veröffentlichten Sammelband rezensiert.

Es ist ein interessantes Buch-Projekt, das das Bibelseminar Bonn anlässlich des nun 50 Jahre zurückliegenden Beginns der Rückkehr der Russlanddeutschen nach Deutschland auf die Beine gestellt hat. In 19 Artikeln mit jeweils einem Umfang von ca. 20 Seiten, geschrieben von unterschiedlichen Autoren, thematisieren sie in ihrem Sammelband Angekommen?![1] die gegenwärtige Situation der freikirchlichen Gemeinden baptistisch-mennonitischer Prägung. Das Ziel sieht der Herausgeber Derksen darin, zu „helfen, Russlanddeutsche besser zu verstehen“[2]. Während die einen Autoren ihre persönliche Lebenserfahrung in ihren Texten verarbeiten, betrachten andere die Russlanddeutschen aus wissenschaftlicher Perspektive und wieder andere Autoren kennzeichnet, dass sie als Nicht-Russlanddeutsche einen Blick von außen auf diese Gruppe werfen.

Nach zwei Erfahrungsberichten über die Auswanderung und das Ankommen in Deutschland stellt John Klassen dar, wie sich die ersten Gemeinden in Deutschland gründen und ihre Gemeindehäuser bauen. Darauf folgen mehrere Artikel, welche die Russlanddeutschen aus einer bestimmten Fragestellung heraus betrachten: Was sind ihre theologischen Grundüberzeugungen? Was ist ihr Missionsverständnis? Wie verstehen sie Leitung in der Gemeinde? Wie ist ihre Sicht von Ehe, Familie und Sexualität? Wie ist ihr Verhältnis zum Staat und zu Politik? Diese Fragestellungen sind gut gewählt, wenn es darum geht, diese Gruppe von Gläubigen kennenzulernen und ihre charakteristischen Merkmale zu verstehen. Aber auch den „Unsrigen“, die mit der analytischen „Aufarbeitung im Wesentlichen erst nach der Übersiedlung nach Deutschland beginnen konnte[n]“[3], tun sich Zusammenhänge auf, die mancher Tradition oder auch theologischen Überzeugung einen einleuchtenden Kontext geben. Das ist eine Stärke vieler Artikel, dass sie nicht nur einen beschreibenden sondern analytischen Charakter tragen.

Eine spannende Frage ist die nach der zu erwartenden Entwicklung der russlanddeutschen Freikirchen. Darauf eine Antwort zu geben, wagt Helge Stadelmann in einem der letzten Artikel. Mitarbeiter in den Gemeinden und vor allem Gemeindeleiter, die die Entwicklung der Gemeinde zu einem großen Teil beeinflussen, dürften diesen Artikel mit besonderem Interesse und Gewinn lesen.

Was den Artikeln fehlt ist die inhaltliche Abstimmung aufeinander. Wiederkehrend findet man eine historische Darstellung der Historie, was einen ermüdenden Eindruck auf den Leser machen kann. Vor allem hinsichtlich der formalen Aspekte weist die Abstimmung zwischen den Artikeln eine enorme Lücke auf: Die Zitation ist auffällig uneinheitich. Z. B. werden Bibelstellen teilweise komplett wörtlich ausgeschrieben[4], zum andern nach unterschiedlichen Abkürzungskonventionen angegeben (Gen oder 1. Mose). Das eine Mal ist ein Zitat in kursiv, das andere Mal aber nicht in kursiv dargestellt. Auch Rechtschreibung und Grammatik lassen manches zu wünschen übrig und die Schriftgröße ist nicht durchgehend stringent formatiert[5]. Diese Auffälligkeiten lassen den Leser im Impressum nach dem Lektorat suchen, aber nicht fündig werden. Womöglich ist das auch die Antwort auf die Frage, wo diese Uneinheitlichkeit herrührt.

Neben diesen formalen Schwächen kann ich das Buch aber inhaltlich empfehlen, verhilft es dem Russlanddeutschen, sich zu reflektieren und sich seiner Geschichte und Identität bewusster zu werden. Dem Hiesigen bietet der Sammelband einen guten Einblick in die Geschichte, Überzeugungen und Theologie der Heimkehrer.

Vor diesem Hintergrund wünsche ich dem Buch, dass es deutschdeutschen Lesern einen erweiterten Blick auf die Russlanddeutschen eröffnet. In Bezug auf die russlanddeutschen Leser besteht meine Hoffnung darin, dass diese Lektüre in jungen Russlanddeutschen die Wertschätzung für die eigene Geschichte wachsen lässt und zur Bildung einer selbstbewussten Identität beiträgt. Auf diese Weise kann dieses Werk auch als Kitt zwischen den Generationen fungieren – das wäre ein großer Segen.


[1] Friedhelm Jung, Heinrich Derksen (Hrsg.): Angekommen?!. Fünfzig Jahre freikirchliche Russlanddeutsche in Deutschland. Lage 2020 (Abteilung: Systematische Theologie, Bd. 4).

[2] Ebd. S. 9.

[3] Ebd. S. 68.

[4] Ebd. S. 36.

[5] Ebd. S. 172.

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