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Bibel & Theologie

Lernt Vergebungsbereitschaft von den Kindern (Tolstoi)

Vor allem für uns Christen ist das Thema Vergebung von zentraler und existentieller Bedeutung. Wir bekennen in der Gemeinde durch Gesang und Zeugnis, dass wir (begnadigte) Sünder sind, die aus der Vergebung leben, und legen im lauten Gebet unsere Sündhaftigkeit Gott mit der Bitte um Vergebung vor.

Diese Freimütigkeit, so scheint mir, endet aber dann, wenn uns ein anderer unsere Sünde tatsächlich spiegelt. Da stößt das offene Bekenntnis zur eigenen Sündhaftigkeit an seine Grenzen. Diese Grenze wird auch dann erreicht, wenn ein Bruder sich offensichtlich an uns  versündigt. Selten denken wir vergebend über ihn: „Er ist nun einmal ein Sünder, der auch von der Gnade leben muss.“ Eher verhärten wir unser Herz gegenüber dem bösen Bruder und suhlen uns in seinem Vergehen oder grämen uns.

Tolstoi greift in seiner Erzählung „Kleine Mädchen sind klüger als alte Leute“[1] das Thema Vergebung auf und zeigt darin, wie Kinder den Erwachsenen hinsichtlich der Vergebungsbereitschaft meilenweit voraus sein können:

Das Osterfest wurde diesmal besonders früh gefeiert. Eben erst hatte man aufgehört, Schlitten zu fahren. Auf den Höfen lag noch Schnee, und durch die Dörfer rannen Bäche trüben Wassers. In einer engen Gasse zwischen zwei Höfen hatte sich neben einem Düngerhaufen eine große Pfütze gebildet. Vor dieser Pfütze trafen sich zwei kleine Mädchen […]. Die Mütter der beiden Mädchen hatten sie anläßlich des Festes besonders herausgeputzt und sie neue Kleidet anziehen lassen.

Und dann kam es, wie es kommen musste. Die beiden zogen sich die Schuhe aus und wateten in das knöcheltiefe Wasser. Da trat Malaschka so stark auf das Wasser, dass sie Akulkas Kleid mit Flecken vollspritzte. Erzürnt wollte diese sich rächen, doch Malaschka suchte flinken Fußes das Weite.

Daraufhin gerieten sich die beiden Mütter in die Haare. „Nun sprangen auch die Bauern hinzu, und bald bildete sich ein großer Menschenhaufe. Alle schrien durcheinander, und keiner hörte auf den andern. Die Leute schimpften und zankten sich, einer stieß den anderen und bald wäre es zu einer richtigen Schlägerei gekommen, da mischte sich eine Alte, Alkulkas Großmutter, in den Streit ein. ,Was macht ihr nur liebe Leute? Ist denn das Fest dazu da?´ […] Allein die Menschen hörten nicht auf die Alte […].“ Unterdessen hatte Akulka ihr Kleid von den Flecken befreit und war zu der Pfütze zurückgekehrt, wo auch ihre Freundin hinzustieß. Zusammen gruben sie mit Stock und Stein einen Kanal, der das Wasser abfließen ließ. Die beiden liefen dem „Flusslauf“ entlang und dabei direkt auf die streitende Menge zu.

Da sah die Alte sie und sagte zu den Bauern: ,Fürchtet euch doch vor Gott! Ihr Bauern wollt euch wegen dieser kleinen Mädchen gegenseitig verprügeln, sie selbst aber haben alles schon längst vergessen und spielen wieder liebevoll miteinander. Diese sind weit klüger als ihr.´ Da sahen die Bauern die Kleinen an und schämten sich. Dann lachten sie über sich selbst und gingen auseinander.

Dieses Lachen würde auch heute – sei es im Gemeindealltag, im Beruf oder der Familie – sicher manches Unkraut im Keim ersticken und uns das Leben leichter und fröhlicher machen. Auch wenn Vergebung etwas kostet, so ist die fehlende Vergebungsbereitschaft noch kostspieliger. Ich hoffe, dass diese Erzählung uns ein wenig vergebungsbereiter werden lässt. „Werdet wie die Kindlein.“ (Mt 18,3)


[1] Leo N. Tolstoi: Volkserzählungen und Legenden. Augsburg 1960. S.109-111.

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