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Geschichte & Menschen

Vom „Xenodochium“ zum „Hospitium“ – Institutionen frühchristlicher Nächstenliebe

Dass das frühe Christentum „Armut“ und dem „Armen“ eine exponiertere Stellung im christlichen Diskurs einräumte als es im paganen Diskurs der Fall war, ist unbestritten. Was weniger klar ist, ist die Beantwortung der Frage, ob das Christentum praktisch, d.h. spür- und messbar, eine Verbesserung der Lage der Armen in der Gesellschaft herbeigeführt hat. Einfach formuliert: Ist dem Armen durch den zunehmenden Einfluss des Christentums in der spätantiken Gesellschaft (ca. 3.-5. Jahrhundert n. Chr.) mehr geholfen worden als vorher? Oder blieb es beim bloßen, unspezifischen „Reden“ über den Armen?

Das Xenodochium – Ausdruck christlicher Gastfreundschaft

Natürlich kann in der Kürze dieses Beitrags keine fundierte Antwort darauf gegeben werden. Es soll hier bloß auf das Aufkommen der Wohltätigkeit verpflichteter Institutionen im vierten nachchristlichen Jahrhundert hingewiesen werden, deren Entstehen und Ausbreitung zumindest ein Ausdruck „echter“ christlicher Armenhilfe sind. Ursprung dieser christlichen Fürsorgeinstitutionen ist das Xenodocheion bzw. (latinisiert) Xenodochium (von griech. xenos – Fremder und dechomai – aufnehmen), die Fremdenherberge.

Nachdem das Christentum angefangen mit Kaiser Konstantin im 4. Jh. n. Chr. immer mehr zur vorherrschenden Religion im Römischen Reich geworden war, mussten christliche Einrichtungen und deren Geldgeber nicht mehr Repressalien oder Einschränkungen vonseiten der heidnischen Umwelt fürchten, vielmehr durften sie sich einer bevorzugten (Steuer-)Politik im Reich erfreuen. Das förderte die Entstehung nicht nur von Kirchen, sondern auch christlicher Wohltätigkeitseinrichtungen. Die Xenodochien entstanden dabei aus der Not heraus, christlichen Pilgern eine Alternative zu den heidnischen Gasthäusern, den Pandocheia, zu bieten. Letztere standen in dem zweifelhaften Ruf, Brutstätten jeglichen Lasters zu sein. Den pilgernden Brüdern, die sich womöglich auf dem Weg nach Jerusalem oder irgendeinem anderen Zentrum christlicher Bedeutsamkeit befanden, musste eine Möglichkeit gegeben werden, außerhalb der heidnischen Gasthäuser Unterkunft und Verpflegung zu finden. So wurden nach und nach bevorzugt in den christlichen Zentren des Reiches (Konstantinopel, Rom, Jerusalem, Antiochia u.a.), aber auch an Wegstrecken Xenodochien eingerichtet. Vielfach wurden dabei die Klöster insbesondere im Osten gastgebende Einrichtungen für die Pilger: Bereits in der ersten uns überlieferten Klosterregel aus dem vierten Jahrhundert, der Regel des Pachomius, wird ein Gästehaus zur Beherbergung Reisender vorausgesetzt. Basilius der Große ermutigt in seinen Ausführlichen Klosterregeln dazu, sowohl Glaubensbrüder als auch „Weltleute“ als Gäste zu bewirten.

Ausdifferenzierung christlicher Wohltätigkeit

Schon bald aber wurden die Xenodochien nicht nur von durchreisenden Pilgern aufgesucht: Allerlei Hilfesuchende fanden in ihnen Aufnahme, sodass sich langfristig ein ganzes Netz von wohltätigen Einrichtungen aus den Xenodochien entwickelte. Otto Hiltbrunner, inzwischen verstorbener Althistoriker, fasst die Bedeutung und Vielfalt der christlichen Anstalten in seinem Buch Gastfreundschaft in der Antike und im frühen Christentum gut zusammen:

Die Gründer der ersten Xenodocheia schlossen eine Lücke in den sozialen Lebensverhältnissen. Ihr Erfolg übertraf alle Hoffnungen. Die Häuser zogen in den Städten nicht nur Durchreisende an. Arme und Bedürftige jeder Art nutzten das Hilfsangebot, und sie wurden, der karitativen Grundidee getreu, nicht abgewiesen. Sind die Xenodocheia in ihrer Urform noch gemischte Anstalten für alle Arten von Hilfesuchenden, entwickeln sich alsbald Sonderformen: Pilgerhaus (Xenodocheion), Krankenhaus (Nosokomeion), Armenhaus (Ptochotropheion), Aussätzigenspital (Lobotropheion), Altersheim (Gerokomeion), Witwenheim (Cherotropheion), Waisenhaus (Orphanotropheion), Findelheim (Brephotropheion).

S.185f.

Bemerkenswert ist, dass das Krankenhaus (lat. hospitium) zumindest in Bezug auf die griechisch-römische Welt der Spätantike eine christliche Innovation ist. Peregrine Horden – dessen Vorname ihn allein schon berechtigt, hier erwähnt zu werden (peregrinus – lat. für fremd) – schreibt in seinem Aufsatz „The Christian Hospital in Late Antiquity“: „The Christian hospital seems to have been invented in the Byzantine empire at some point in the 340s […]. They [the hospitals] marked a particular stage in the evolution of Christian charity.”

Christliche Wohltätigkeit – Praktische Apologie

Sicher darf man nicht der verführerischen Annahme verfallen, es habe sich mit dem Erstarken des Christentums im gesamten spätantiken römischen Reich ein flächendeckendes Sozialsystem herausgebildet. Eine solche Ausdifferenziertheit von Hilfsangeboten hat es, wenn überhaupt, nur in den damaligen Großstädten gegeben: Cäsarea in Kappadozien und Konstantinopel sind hier leuchtende Beispiele. Dennoch scheint die Wohltätigkeit der Christen auch im heidnischen Umfeld bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben, sodass Kaiser Julian, letzter nichtchristlicher römischer Kaiser (deswegen auch Julian, der Apostat, genannt), in seinem Brief an den heidnischen Priester Arsakios (um 362) trotz seiner Verachtung für das Christentum dessen Erfolg anerkennen muss:

Glauben wir denn, daß es damit genug sei, und beachten wir nicht, daß die Menschenfreundlichkeit gegen die Fremden, die Vorsorge für die Bestattung der Toten und die vorgebliche Reinheit des Lebenswandels es waren, die im Verein miteinander die Gottlosigkeit [d.h. das Christentum] am meisten gefördert haben? Jede dieser Tugenden, meine ich, muß von uns mit aufrichtigem Eifer geübt werden. […] Denn es ist eine Schmach, wenn von den Juden nicht ein einziger um Unterstützung nachsuchen muß, während die gottlosen Galiläer [eine verächtliche Bezeichnung der Christen] neben den ihren auch noch die unsrigen ernähren, die unsrigen aber der Hilfe von unserer Seite offenbar entbehren müssen.

Sammlung Tusculum

Wenn auch das konkrete Ausmaß frühchristlicher Wohltätigkeit statistisch kaum zu bemessen sein wird, so ist doch deutlich, dass Nächstenliebe und Armenfürsorge unabhängig von sozialem Stand des Rezipienten als spezifisch christlich wahrgenommen wurden, dass der „Arme“ zumindest den Anspruch auf Hilfestellung erheben konnte. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war, wie wir gesehen haben, die praktische Ausübung christlicher Gastfreundschaft. Dass Gastfreundschaft auch für die christliche Gemeinde des 21. Jahrhunderts Ausdruck und Mittel christlicher Nächstenliebe ist, soll im nächsten Beitrag thematisiert werden.

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