Auf der Reise durch „Bedeutende Jahreszahlen russland-mennonitischer Geschichte“ haben wir bisher an folgenden Stationen Halt gemacht, die man auch als mennonitische (nicht russland-mennonitische) Jahreszahlen bezeichnen könnte:
- 1525 | Die erste Gläubigentaufe & Täufergemeinde
- 1527 | Das Schleitheimer Bekenntnis
- Ab 1530 | Flucht nach Danzig (Polen)
- 1536 | Menno Simons tritt den Täufern bei
Die nachstehende Haltestelle erklärt jedoch, warum diese Reihe mit dem Adjektiv „russland-mennonitisch“ versehen ist.
1789 | Gründung der Kolonie „Chortiza“ in Russland
Zum Ende des 18. Jahrhunderts wird die Lage für die Mennoniten in Preußen hauptsächlich aus zwei Gründen zunehmend schwierig. Zum einen benötigten die preußischen Herrscher Soldaten für ihr Heer, da es in Europa ein allgemeines Wettrüsten gibt. Aus diesem Grund senden sie Werber in die Gebiete der Mennoniten, wobei deren Erfolg mit drei gewonnenen jungen Männern recht bescheiden ausfällt. Jedoch erzeugt das Unruhe unter den pazifistischen Mennoniten (siehe Art. 6 des Schleitheimer Bekenntnisses), so dass die Ältesten und Prediger sich zu einer Krisensitzung treffen und per Brief um eine Einstellung der Umwerbung ihrer Leute bitten.
Der zweite Grund, der das Leben gehörig erschwert, ist das knapp werdende Ackerland. Nur der Erstgeborene, der häufig kinderreichen Familien, erhält als Erbe den Hof seiner Eltern. Alle Nachgeborenen müssen am Rand des Dorfes in Häusern ohne Ackerland leben und sich ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als Recht als Knechte und Handwerker auf den Höfen der Hofsbesitzer verdienen. Die Folge sind Armut, kultureller und sittlicher Niedergang und Alleinstehende, die keine Familien gründen können, da sie diese nicht ausreichend versorgen könnten.
In dieser Situation erscheint den Mennoniten die Einladung der Zarin Katharina der Großen im Jahre 1786 wie ein göttlich mächtiger Eingriff in ihre Not. Peter Hildebrand, ein mennonitischer Bauer, beschreibt seine Empfindungen damals so:
„Im Jahre 1786, ausgangs August, trug es sich zu, dass ich einen Besuch bei meinem Freunde N. in Neundorf machte. Dieser erzählte, dass die russische Zarin einen Herrn hierher geschickt, um Leute anzuwerben zur Niederlassung in Russland, insbesondere sei es ihm um Mennoniten zu tun. Dies war ein Lichtstrahl in meiner Seele. Hierin sah ich einen Gotteswink. Dies war zugleich auch ein Aufruf an mich…“[1]
Am 22. März 1788 verlässt der erste Trupp bestehend aus acht Familien mit etwa 50 Personen Danzig in Richtung Russland. Ihre Reise geht zunächst über Riga (Lettland), wo sie den Pferden eine vierwöchige Erholungsphase gönnen und dann über Dubrowna (heute Dobrouna?), wo sie aufgrund erneut ausgebrochener Kriege zwischen Türken und Russen sogar den ganzen Winter 1788/89 verbringen müssen. In dieser Zeit stoßen weitere Trupps aus Danzig hinzu, so dass die Gruppe auf 250 Familien anwächst. Infolgedessen kommt es zu großen geistlichen Schwierigkeiten. Zum einen bricht der alte Streit zwischen den „strengeren“ Flamen und den „freieren“ Friesen wieder auf, wobei man diese inner-mennonitische Trennung eigentlich in Russland vergessen machen wollte. Die Wurzel dieser Gruppierungen lag schon im 16. Jahrhundert, wobei es in dem Zwist zumindest teilweise um überaus banale Dinge, wie Knöpfe oder Ösen an den Kleidern oder Schuhen ging. Spöttisch sagte man damals in ihrem Umfeld:
Die mit den Haken und Ösen,
Die wird der Herrgott lösen.
Die mit den Knöpfen und Taschen,
Die wird der Teufel erhaschen![2]
Zum anderen gibt es in dieser großen Gruppe keinen befestigen (bzw. eingesegneten) Prediger, der die auf der Reise entstandenen zwölf Verlobungspaare trauen oder aber auch Gottesdienst abhalten kann. Um die Not zu lindern, organisiert man eine Wahl an deren Ende Behrend Penner bestimmt und anschließend per vollmächtigen Brief aus Danzig eingesegnet wird. Entsprechend ihrem Ämterverständnis haben die Auswandernden nun jemanden, der trauen und taufen kann.
Bei Beginn des Tauwetters macht sich die riesige Gruppe entlang des Dnepr weiter in Richtung ihres Zielortes. Als sie Krementschug erreichen, wird einer der beiden Anführer, Jakob Höppner, zum Reichsfürsten Potemkin beordert und ihm mitgeteilt, dass der ursprünglich anvisierte Ort aufgrund der problematischen Sicherheitslage wegen des Türkenkrieges nicht zur Verfügung steht. Den Mennoniten wird ein anderer zerklüfteter Ort an der rechten Seite des Dneprs zugewiesen, der landwirtschaftlich betrachtet von viel geringerer Qualität ist. Hier siedeln sich die Mennoniten, wenn auch widerwillig, an. Die erste russland-mennonitische Siedlung Chortiza ist geboren.
In den nächsten Jahren entstehen neben der Chortiza-Siedlung noch weitere mennonitische Kolonien in Russland:
- 1804 Kolonie „Molotschna“ (etwa 100 km von der Chortiza-Kolonie entfernt)
- 1853 Kolonie „Am Trakt“ (an der Wolga, rund 1300 km weiter nordöstlich von Chortiza aus)
- 1859 Kolonie „Alexandertal“ (etwa 450 km in nord-östlicher Richtung von „Am Trakt“ entfernt)
[1] Heidebrecht, Hermann; „Fürchte dich nicht, du kleine Herde!“ S.24
[2] H. Penner, H. Gerlach, H. Quiring; „Weltweite Bruderschaft“ S.55