Heinrich Kemner erinnert sich an ein Gespräch mit seinem ehemaligen Schuldirektor. Er (der katholisch aufgewachsene Direktor) sagt:
„Ich muss Ihnen eigentlich sagen, wie ich eines Tages den Kern des evangelischen Glaubens begriffen habe“, begann er dann. „Als Student wanderte ich eich einmal in der Lüneburger Heide. Eines Tages hatte ich mich verlaufen. Weil ich kein Gasthaus fand und unter Hunger und noch mehr unter Durst litt, nahm ich mir schließlich ein Herz und kehrte beim nächsten Bauernhof am Wege ein. In der geräumigen Bauerstube ging die Familie gerade zu Tisch. Ich nannte mein Anliegen und wurde sogleich zu Tisch gebeten. Wie selbstverständlich, als gehörte ich schon lange zur Familie, wurde ich eingeordnet. Am oberen Ende des Familientisches saß der alte Heidebauer mit schlohweißem Bart. Er hatte einen geprägten Kopf, wie aus Stein gemeißelt, der einen Bildhauer hätte begeistern müssen. Ohne Worte strahlte er eine Wirkung aus, die mir als jungem Dachs das Gefühl gab, einer Persönlichkeit gegenüber zu sitzen. Nach dem Essen reichte man ihm die alte zerlesene Familienbibel. Mit einer Ehrfurcht und Feierlichkeit, als beträte er einen geheiligten Raum, schlug der Heidjer die Bibel auf. Dann las er das Kapitel der Tageslese, wie ich niemals in meinem Leben mehr die Worte der Heiligen Schrift habe lesen hören. Der Mann stand vor seinem Gott. Jedes Wort war ganz, demütig und echt. Als er das Amen sprach, schlug er die Bibel zu und faltete seine schwieligen Hände. Er betete ein kurzes Gebet, frei und geschenkt, wie ein großes Kind ehrfurchtsvoll zu seinem Vater spricht. Das gemeinsame ´Vater unser` schloss sich an. Diese Gebete gingen mir durch Mark und Bein. Es wurde nicht geplappert, sondern war ein Reden vor Gott und mit Gott. Niemals in meinem Leben habe ich ein solches Beten wieder gehört. Das Jenseitige kam über die Brücke des Gebets in die Bauerstube, es berührte mich und ging mir so unter die Haut, dass ich noch heute vom Anstoß dieser Stunde bewegt bin.“ Nach einer kurzen Stille fuhr er fort: „Manche evangelische Dogmatik habe ich in der Zwischenzeit gelesen. Recht klug bin ich aus all der Dialektik nicht geworden. Was ich von der evangelischen Dogmatik begriffen habe, verdanke ich jenem Heidebauern: Evangelischer Christ sein heißt, unter dem Kreuz Jesu Christi unmittelbar sein zu dem Heiligen Gott. – Ob es in der Heide wohl noch solche Bauern gibt?“