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Gemeinsames Leben (2): Warum eine Gemeinschaft zerbricht

Nachdem Bonhoeffer das Fundament der christlichen Gemeinschaft im Wort Gottes aufgezeigt hat (d.h. in der Lehre der Rechtfertigung aus Glauben allein, vgl. den ersten Beitrag), macht er deutlich, dass christliche Gemeinschaft sich ganz auf den Mittler Jesus Christus fokussieren muss, wenn sie bestehen will:

Ein Christ kommt zum anderen nur durch Jesus Christus. […] Ohne Christus kennten wir […] den eigenen Bruder nicht und könnten nicht zu ihm kommen. Der Weg ist versperrt durch das eigene Ich. Christus hat den Weg zu Gott und zum Bruder freigemacht. […] Nur durch Jesus Christus sind wir eins, nur durch ihn sind wir miteinander verbunden. (S. 20)

Bonhoeffer erklärt weiter, welche Konsequenz das für die christliche Gemeinschaft hat:

Das wir allein durch Jesus Christus Brüder sind, das ist eine Tatsache von unermeßlicher Bedeutung. Also nicht der ernste, nach Bruderschaft verlangende, fromme Andere, der mir gegenübertritt, ist der Bruder, mit dem ich es in der Gemeinschaft zu tun bekomme; sondern Bruder ist der von Christus erlöste, von seiner Sünde freigesprochene, zum Glauben und zum ewigen Leben berufene Andere. (S. 21f.)

Worin liegt jetzt genau die unermessliche Bedeutung für Bonhoeffer? Sie liegt in der Brille, die Bonhoeffer aufsetzt, wenn er seinen Bruder betrachtet. Er sieht ihn allein durch Christus. Ich musste dabei an Paulus denken, wie er von den Korinthern als von Heiligen spricht, obwohl er genau weiß, dass die Gemeinde tief in diversen Sünden steckt. Bonhoeffer betont, dass diese Brille sehr konsequent aufgesetzt werden muss:

Je echter und tiefer unsere Gemeinschaft wird, desto mehr wird alles andere zwischen uns zurücktreten […]. (S. 22)

Es muss wirklich alles andere darüber hinaus zurücktreten (also: Nie die Brille absetzen), denn:

An eben dieser Stelle droht der christlichen Bruderschaft meist schon ganz am Anfang die allerschwerste Gefahr, die innerste Vergiftung, nämlich durch die Verwechslung von christlicher Bruderschaft mit einem Wunschbild frommer Gemeinschaft. (S. 22)

Eine christliche Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft von begnadigten Sündern, deshalb sollten wir nicht mit falschen Wunschvorstellungen eine ideale Gemeinschaft erträumen. Stattdessen sollte es uns nicht wundern, wenn auch christliche Gemeinschaft Enttäuschungen und Verletzungen mit sich bringt. Bonhoeffer weist deutlich darauf hin, dass wir ansonsten die christliche Gemeinschaft sogar zerstören:

Wer seinen Traum von einer christlichen Gemeinschaft mehr liebt als die christliche Gemeinschaft selbst, der wird zum Zerstörer jeder christlichen Gemeinschaft, und ob er es persönlich noch so ehrlich, noch so ernsthaft und hingebend meinte. (S. 24)

und:

Unzählige Male ist eine christliche Gemeinschaft daran zerbrochen, daß sie aus einem Wunschbild heraus lebte. (S. 23)

Wer also das Ideal einer z.B. heiligen, missionarischen oder bibeltreuen Gemeinde verfolgt, der zerstört die Gemeinschaft, selbst mit den besten Motiven:

Wer sich das Bild einer Gemeinschaft erträumt, der fordert von Gott, von dem Andern und von sich selbst die Erfüllung. Er tritt als Fordernder in die Gemeinschaft der Christen, richtet ein eigenes Gesetz auf und richtet danach die Brüder und Gott selbst. Er steht hart und wie ein lebendiger Vorwurf für alle anderen im Kreis der Brüder. […] Was nicht nach seinem Willen geht, nennt er Versagen. Wo sein Bild zunichte wird, sieht er die Gemeinschaft zerbrechen. So wird er erst zum Verkläger seiner Brüder, dann zum Verkläger Gottes und zuletzt zu dem verzweifelten Verkläger seiner selbst. (S. 24)

Wenn wir nicht lernen, die Brüder (mit allen Schwächen und Sünden) dankbar aus Gottes Hand anzunehmen, wird die Gemeinschaft nicht wachsen können:

Danken wir nicht täglich für die christliche Gemeinschaft, in die wir gestellt sind, auch dort, wo keine große Erfahrung, kein spürbarer Reichtum, sondern wo viel Schwäche, Kleinglauben, Schwierigkeit ist, beklagen wir uns vielmehr bei Gott immer nur darüber, daß alles noch so armselig, so gering ist, […] so hindern wir Gott, unsere Gemeinschaft wachsen zu lassen nach dem Maß und Reichtum, der in Jesus Christus für uns bereit liegt. (S. 25)

Enttäuschungen können deshalb sehr heilsam sein:

Die große Enttäuschung über die Andern, über die Christen im allgemeinen und, wenn es gut geht, auch über uns selbst, muß uns überwältigen, so gewiß Gott uns zur Erkenntnis echter christlicher Gemeinschaft führen will. (S. 23)

Mit dieser Erfahrung treten wir ganz anders in die Gemeinschaft mit den Brüdern:

Weil Gott den einzigen Grund unserer Gemeinschaft schon gelegt hat, weil Gott uns längst, bevor wir in das gemeinsame Leben mit anderen Christen eintraten, mit diesen zu einem Leibe zusammengeschlossen hat in Jesus Christus, darum treten wir nicht als die Fordernden, sondern als die Dankenden und Empfangenden in das gemeinsame Leben mit andern Christen ein. […] Wir beschweren uns nicht über das, was Gott uns nicht gibt, sondern wir danken Gott für das, was er uns täglich gibt. Und ist es nicht genug, was uns gegeben ist: Brüder, die in Sünde und Not mit uns unter dem Segen seiner Gnade dahingehen und leben sollen? (S. 24)

Zusammengefasst:

Wer an einer christlichen Gemeinschaft, in die er gestellt ist, irre wird und Anklage gegen sie erhebt, der prüfe sich zuerst, ob es nicht eben nur sein Wunschbild ist, das ihm hier von Gott zerschlagen werden soll, und findet er es so, dann danke er Gott, der ihn in diese Not geführt hat. […] Christliche Bruderschaft ist nicht ein Ideal, dass wir zu verwirklichen hätten, sondern es ist eine von Gott in Christus geschaffene Wirklichkeit, an der wir teilhaben dürfen. (S. 26, eigene Hervorhebung)

aus: Dietrich Bonhoeffer: Gemeinsames Leben. Kaiser: Gütersloh 1988.

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