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Bibel & Theologie

Der „Nutzen“ innewohnender Sünde

Ich verstehe selbst nicht, warum ich so handle, wie ich handle. Denn ich tue nicht das, was ich tun will; im Gegenteil, ich tue das, was ich verabscheue.

Römer 7,15

Heute sollte ich die Bibel lesen. Ich will es auch. Zumindest weiß ich, dass ich es wollen sollte. Aber ich schaffe es nicht. Ich weiß, dass ich beten will oder ich weiß zumindest, dass ich es wollen sollte. Aber ich tue es nicht. Selbst wenn ich mit gefalteten Händen vor meiner Bibel sitze gibt es keine Garantie, dass ich tue, was ich will. Kennst du das aus deinem Leben als Christ? Ich bin mir ziemlich sicher, dass deine Antwort „Ja“ lautet.

In dem Buch Newton on the Christian Life von Tony Reinke, aus dem ich hier bereits zitiert habe, findet sich ein wertvolles Kapitel über innewohnende Sünde, die unser Leben auch nach der Bekehrung beeinflusst. Newton verglich die innewohnende Sünde mit einem gezähmten Löwen, der eines Tages in seine Stadt gebracht wurde. Doch obwohl er gezähmt war, durfte man ihn nicht anfassen, weil er immer noch ein gewaltsames Verhalten zeigen konnte. (Vgl. Pos. 2453f.) Die Gegenwart der innewohnenden Sünde macht es für uns unmöglich, bereits in diesem Leben vollkommen heilig zu leben.

Aber warum ist es so? Denn Gott könnte doch jederzeit in einem einzigen Moment jede Wurzel innewohnender Sünde in unserem Herzen durch seine Gnade austilgen – aber er tut es eben nicht. Warum? Newton gibt zu bedenken: Wir kämpfen mit Sünde, nicht weil die Sünde stärker ist als Gottes Gnade, sondern weil Gott in seiner Gnade über die innewohnende Sünde herrscht und sie in gewissem Sinne für seine Ziele gebraucht (Vgl. Pos. 2497). In einem Brief gibt er sechs Antworten, warum Gott sich für diesen Weg entschieden hat (Vgl. Pos. 2480ff.):

  1. Innewohnende Sünde lässt uns immer wieder über das Fortbestehen des Glaubens eines schwachen Sünders staunen. Jeder Morgen, an dem wir aufwachen und unser Vertrauen auf Jesus setzen, ist nicht selbstverständlich. Es ist das sichere Zeichen der wirksamen Gnade Gottes.
  2. Innewohnende Sünde lässt uns das Ausmaß der Erlösung besser erkennen. Je stärker wir die Macht und das Potential der Sünde spüren, desto mehr erkennen wir die Kraft des Erlösers.
  3. Innewohnende Sünde demütigt uns, weil wir uns der Gegenwart der Sünde in unserem Leben bewusst werden. Wenn Gott uns vom Anfang bis zum Ende retten muss, dann gebührt ihm auch alle Ehre. Ein reifer Christ ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass er sich der Gegenwart der Sünde in seinem Leben sehr stark bewusst ist.
  4. Innewohnende Sünde lässt uns die Größe der Souveränität Christi besser erkennen. Wenn der Gläubige, nachdem er sein betrügerisches Herz oft erlebt hat und nachdem seine Schwachheit, Willkür, Undankbarkeit und Unempfindlichkeit wiederholt bewiesen wurde, erkennt, dass nichts von diesen Dingen ihn von der Liebe Gottes in Christus Jesus trennen kann, wird Jesus ihm um so wertvoller werden.
  5. Innewohnende Sünde demütigt uns bei unseren Versuchen, Nächstenliebe zu üben, weil gerade an dieser Stelle unsere Eigensucht häufig hervortritt.
  6. Innewohnende Sünde führt dazu, dass wir unsere Hoffnungen nicht mehr auf diese Welt setzen, weil wir durch sie lernen uns nach dem Tag zu sehnen, an dem die Sünde komplett besiegt sein wird.

Um nicht missverstanden zu werden: Der „Nutzen“ innewohnender Sünde ist niemals eine Entschuldigung zum Sündigen. Aber doch hat sie einen gewissen „Nutzen“. Newton verstand, dass wir so völlig verdorben sind, dass wir die Wahrheit, durch und durch Sünder zu sein, nicht durch theoretische Belehrung allein begreifen können. Wir müssen unsere Sünde erleben, sie fühlen, sie muss uns aufrütteln. Und gerade dieses Gefühl ist ein sicheres Zeichen, dass Gott in unserem Leben gnädig wirksam ist (Vgl. Pos. 2403). Deshalb konnte Newton auch an einen Pastor, der nicht glauben konnte, dass Gott einen Sünder wie ihn gebrauchen könnte, schreiben, dass ein solcher Selbstzweifel ein unerlaubtes Beschneiden der Allgenügsamkeit Christi wäre. Von uns selbst wenig zu erwarten, ist richtig. Aber von Christus und seinem Werk wenig zu halten, ist falsch (Vgl. Pos. 2637).

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