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John Neufeld: „Mit einem Esel und einem Ochsen pflügen: Wie es ist, ein reformierter Täufer zu sein“

Im Juni 2019 hat Waldemar in seinem Post „Können Mennoniten-Brüder-Gemeinden reformiert sein?“ einen Artikel von John Neufeld kurz zusammengefasst, den Neufeld 2013 für die theologische Zeitschrift Directions verfasst hatte (hier geht es zum Original). Da in den Kommentaren der Wunsch nach einer Übersetzung geäußert wurde, haben wir John Neufeld um Erlaubnis gebeten und veröffentlichen nun mit seiner freundlichen Genehmigung unsere Übersetzung. Das Update am Ende des Artikels findet sich nicht im Original, sondern wurde auf Wunsch von Neufeld von uns hinzugefügt. Die Fußnoten haben wir nicht übersetzt.

Mit einem Esel und einem Ochsen pflügen: Wie es ist, ein
reformierter Täufer zu sein

Ich wurde gebeten, einen Artikel über die reformierte Bewegung (zuweilen auch unter dem Namen „Neuer Calvinismus“ bekannt) in Mennoniten-Brüder-Kreisen zu schreiben. Der Grund für die Anfrage, so nehme ich an, ist der, dass ich mich selbst so identifiziere. Ich bin Mitglied im Gremium der Gospel Coalition, die von Don Carson, Timothy Keller und John Piper geführt wird – eine Vereinigung, die für ihre reformatorischen Wurzeln und calvinistischen Überzeugungen bekannt ist. Ich bin auch Pastor einer großen Mennoniten-Brüder-Gemeinde (MB) in Kanada und habe somit kein Problem damit, mich als Täufer zu verstehen. Ich wurde einem Mitglied der Coalition einmal als „reformierter Täufer“ vorgestellt, das darauf mit den Worten aus 5. Mose 22,10 reagierte – „Du sollst nicht mit einem Ochsen und einem Esel zusammen pflügen“. Ich lächelte, fand es innerlich aber nicht lustig. Allerdings hätte der Kommentar genauso gut aus MB-Kreisen kommen können. Beide Seiten bezweifeln, dass man sie so einfach zusammenbringen könnte.

Das Täufertum braucht die reformierte Bewegung, damit es nicht in dem leblosen Morast endet, in dem Eduard Wüst die russland-mennonitischen Kolonien vorgefunden hat.

Die Frage, wie man sowohl konsequent Täufer als auch konsequent Reformierter sein kann, ist berechtigt. Reformiert zu sein, bedeutet für viele, presbyterianisch oder christlich-reformiert zu sein. Es bedeutet, der Kindertaufe, einem reformierten Verständnis der Realpräsenz Christi im Sakrament des Abendmahls und einer Ekklesiologie zuzustimmen, die sich eher für ein hierarchischeres Gemeindeleitungsverständnis eignet, welches von den meisten Täufern abgelehnt werden würde. Darüber hinaus erinnern mich Täufer oft an die Rolle, die Johannes Calvin in der Verbrennung des anti-trinitarischen Häretikers Michael Servetus im Jahre 1553 gespielt hat. Im Kontrast dazu sind Täufer berufen, ihre Feinde zu lieben, nicht sie zu verfolgen. Und schließlich kann der Gedanke eines christlichen Genfs, den Calvin unterstützte, nicht mit der täuferischen Sichtweise versöhnt werden, dass die Gemeinde eine radikale Gemeinschaft ist, nämlich das Volk Gottes, abgetrennt von den Korridoren weltlicher Macht.

Angesichts dieser unüberbrückbar erscheinenden Unterschiede zwischen der reformierten und der täuferischen Tradition vermuten viele, dass der gegenwärtige Trend in manchen Mennoniten-Brüder-Gemeinden, reformiert-klingende Pastoren einzustellen, auf zwei Faktoren zurückgeführt werden kann. Der erste ist einfach die Tatsache, dass „reformiert“ zu sein heutzutage „cool“ ist. Mit der Veröffentlichung von Collin Hansens Buch Young, Restless, Reformed im Jahr 2008 hat ein neu aufstrebender Calvinismus in Nordamerika an Aufmerksamkeit gewonnen[1] . 2009 hat das Time-Magazin den „neuen Calvinismus“ als eine der Ideen angeführt, die die Welt zurzeit verändern[2]. Manche Täufer argwöhnen, dass die reformierte Bewegung innerhalb der MB-Gemeinden einfach nur auf dieser Welle mitreitet. Interessanterweise teile ich diese Bedenken. Ich identifizierte mich damals in den frühen 1980er Jahren als „reformiert“, ein Resultat meiner Lektüre von Jonathan Edwards (1703-1758). Zu dieser Zeit war es überhaupt nicht „cool“, reformiert zu sein. Meine Faszination von Edwards brachte mich dazu, die Puritaner zu lesen und dann schließlich zu Calvin und Luther. In ihnen habe ich etwas gesehen, was mir fehlte und wonach ich mich sehnte, wobei ich niemals meine täuferischen Wurzeln verloren habe. Und doch bin ich besorgt, wie auch viele andere Täufer, dass viele der „Reformierten“ eher von einigen populären Predigern beeinflusst sind, die der reformierten Bewegung ein neues keckes Gesicht aufgesetzt haben, und nicht das Produkt eines ernsthaften theologischen Nachdenkens sind.

Ein zweiter Grund für das Unbehagen mancher ist der, dass der Pluralismus in allen Denominationen gewachsen ist. In unserer Denomination wird oftmals nicht gut artikuliert, was es heißt, „Mennoniten-Brüder“ zu sein. So können sehr unterschiedlichen Strömungen koexistieren, ohne dass versucht wird, den sich ausdehnenden Pluralismus einzudämmen. Natürlich ist das nicht nur ein Problem für die Reformierten unter dem MB-Dach. In manchen Hinsichten sind die Mennoniten-Brüder wie der dreimanegige Zirkus geworden, der durch die Städte zog. Verschiedene Stücke wurden zur selben Zeit im gleichen Zelt aufgeführt, wobei der Zuschauer ganz selbstständig entscheiden konnte, welches der drei ihn oder sie am meisten interessierte. So kann man unter dem MB-Dach sein und sich das Stück „Friedensposition“, das „feministische“ Stück, das „großkirchlich-evangelikale“ („mainline evangelical“) Stück, das „emergente“ Stück, das Stück der „Hermeneutik der Volks- bzw. Gruppenzugehörigkeit“ („hermeneutics of peoplehood“; vgl. John H. Yoder, Anm. d. Ü.) oder das „reformierte“ Stück anschauen – die alle zur selben Zeit unter demselben großen Hut laufen.

So suspekt der Gedanke eines „reformierten Täufertums“ für manche auch klingen mag: Ich möchte im Folgenden meine eigene Sichtweise eines – meinem Verständnis nach – konsequenten Ansatzes, sowohl Täufer als auch reformiert zu sein, vorstellen. Ich möchte für die einzige Version des Täufertums argumentieren, die meines Erachtens tatsächlich funktioniert: ein mit einem Bindestrich versehenes Täufertum. Mein Argument ist, dass das Täufertum als Bewegung nie die Absicht hatte, alleine dazustehen. Er ist eine „Korrekturbewegung“ und niemand sollte eine „Korrektur“ nehmen und sie in die zentrale Sache verwandeln.

Anabaptistische Wurzeln

Der logische Ausgangspunkt sind zunächst die ersten täuferischen Regungen in der Schweiz unter dem Reformator Ulrich Zwingli. Die „jungen Radikalen“, die 1525 mit ihm brachen und die Täuferbewegung begründeten, hatten viel mit ihrem Mentor gemeinsam. Sie hatten sich Zwinglis Sicht der Schrift zu Eigen gemacht. Zwinglis Betonung des reformatorischen Ideals von sola Scriptura bildete gerade die Grundlage der Meinungsverschiedenheit mit ihrem Lehrer. Von Zwingli lernten sie, dass die Kirche sich nicht dem Staat gegenüber zu verantworten hat, sondern der christlichen Gemeinschaft, aus der sie besteht. Von ihm übernahmen sie auch die Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben allein, verneinten die römische Lehre der Transsubstantiation, die Heilsrelevanz guter Werke, die Lehre von der Fürbitte der Heiligen, die Existenz des Fegefeuers und so weiter. Heute übersehen viele Täufer, dass unsere Sicht auf das Abendmahl ganz und gar die Sicht Zwinglis ist. Zwinglis Einfluss auf das, was wir (geworden) sind, ist unbestreitbar. Wir täten gut daran, das anzuerkennen, was wir diesem hervorragenden Reformator zu verdanken haben. Tatsächlich bilden Zwingli und die beiden anderen „Magistralreformatoren“ (Luther und Calvin) die Grundlage für unsere MB-Denomination. Sie schafften die Voraussetzungen für das, was wir sind und was wir glauben und auch die Schriftprinzipien, die uns leiten.

Aber warum haben die Täufer dann mit Zwingli gebrochen? Viele Aspekte spielen hier eine Rolle, aber für diesen Artikel werde ich mich auf zwei beschränken. Erstens war da die Frage der Messe. Konrad Grebel und seine Freunde forderten Zwingli auf, der Praxis der Messe, die sie für unbiblisch hielten, ein Ende zu setzen. Zwingli hatte sie das bereits gelehrt, mahnte seine jungen Schüler aber zur Geduld. Er hoffte, diese Angelegenheit mit dem Züricher Stadtrat zu klären, was er auch tatsächlich tat. Kurz nach dem Bruch erhielt Zwingli die Erlaubnis des Stadtrats, die Messe abzuschaffen. Aus Zwinglis Sicht waren die unter seiner Obhut stehenden Männer viel zu ungeduldig gewesen. Wären sie bereit gewesen, zu warten, hätten sie ihre Wünsche erfüllt bekommen – aber so ist nun einmal die ungestüme Natur der jungen Generation.

Aus der Sicht der Radikalen aber hatte Zwingli den Kern der Sache völlig verkannt. Warum sollten sie sich, nachdem sie von einem Unterdrücker befreit worden waren (Rom), nun einem anderen unterwerfen (dem Zürcher Stadtrat)? Es ging hier um eine Kirche unter der Herrschaft Christi, einem Gemeindemodell, das wir heute „glaubende Kirche“ („believers church“) nennen. Die Leitung der Kirche wurde einer gläubigen Gemeinschaft anvertraut, die von der Schrift geleitet wurde und nicht auf die Dekrete einer zivilen Autorität wartete. Täufer zu sein bedeutet daher, die Kirche als eine radikale, aus der Welt gerufene Gemeinschaft zu begreifen, die nur unter der Autorität Christi steht. Im Wesentlichen war dies die logische Entwicklung der Reformationsdoktrin von solus Christus.

Das zweite Thema war die Taufe, die den Einstiegspunkt in die Gemeinschaft der Gläubigen markierte. Die Kindertaufe implizierte die Idee einer „Christenheit“, wohingegen die Gläubigentaufe die Gläubigen als eine von der Welt getrennte Gemeinschaft begriff, um so heiliges Volk Gottes zu sein.

An dieser Stelle sollten wir festhalten, dass die Radikalen zu keinem Zeitpunkt die Gnadenlehren, die sie von Zwingli übernommen hatten, infrage stellten. Auch wenn es zukünftig alle möglichen Meinungsverschiedenheiten mit den reformatorischen Gnadenlehren geben würde (man denke an die Zwickauer Propheten, die Münster-Tragödie und die „Werkstheologie“ einiger Täufer in Süddeutschland), blieb die Mehrheit davon überzeugt, dass die Gnadenlehren die Grundlage ihres Glaubens bildeten.

Reformierte und anabaptistische Theologien

Aus dem Vorhergehenden sollten sich mehrere Perspektiven eröffnen. Zunächst einmal ist da das Verhältnis der Täuferbewegung im weiteren Reformationskontext. Es gibt diejenigen, die argumentieren, dass das Täufertum eine Art „dritten Weg“ darstellt, eine Sichtweise des Christentums, die „weder katholisch noch protestantisch“ ist[3]. Allerdings ist dieser Ansatz problematisch. Wer mit der Reformation vertraut ist, wird anerkennen, dass die Reformatoren nicht versucht haben, einen „zweiten Weg“ zu präsentieren. Vielmehr argumentierten sie, dass Rom sich verirrt habe und reformiert werden müsse, um wieder zu dem einzig wahren Weg zurückzufinden. Aus diesem Grund zitierten die Reformatoren nicht nur gerne die Schrift, sondern beriefen sich auch auf wichtige Kirchenführer der Vergangenheit. Wer Calvin genauer kennt, sieht sofort, wie stark er sich sowohl auf Augustinus als auch auf Johannes Chrysostomos berufen hat. Wer Zwingli kennt, wird sich daran erinnern, dass er sein auslegendes Predigen mit dem Hinweis auf die Praxis der Kirchenväter begründet hat.

Der Punkt ist, dass die Reformatoren die Kirche wieder auf die richtige Grundlage zu stellen suchten und nicht eine neue Tradition, eine zweite Art von Kirchenverständnis, im Sinn hatten. Die Reformatoren wiesen darauf hin, dass das Aufkommen des Papsttums eine Verirrung und keine natürliche Entwicklung der authentischen Kirche war. Selbst bei den gefeierten Konzilen von Nicäa und Chalcedon kamen die Bischöfe der Weltkirche durch Bibelstudium und Konsens zu ihren Schlussfolgerungen, nicht durch passiven Gehorsam gegenüber einem päpstlichen Edikt. Für die Reformatoren war die westliche Kirche von ihrem Weg abgekommen und sie waren dabei, ihren wahren Weg wiederzuentdecken, indem sie sich allein der Autorität der Schrift unterwarfen. Damit waren die Täufer einverstanden.

Die Reformatoren waren nicht so naiv, zu glauben, sie könnten die Kirche vollständig reformieren. Ihre Vision war eine reformierte und sich dann immer weiter reformierende Kirche. Und genau hier zeigen uns die Täufer etwas, was wir sehen müssen.

In The Anabaptist Story erklärt William Estep, dass das Täufertum im Wesentlichen ein „Reformationsphänomen“ war[4]. Gerade bei sola Scriptura, aber auch, wie man ergänzen könnte, bei Themen wie der Autorität der historischen Glaubensbekenntnisse, der Dreieinigkeitslehre und der Rechtfertigung durch den Glauben, „ist die Reformationshaltung der Wiedertäufer eindeutig“[5]. Die große Besonderheit der Täufer war, so Estep, ihre Weigerung anzuerkennen, dass Kirche und Staat Verbündete sein müssen[6]. Auch ein früherer Gelehrter hat gemeint, dass mennonitische Ansichten an die Puritaner weitergegeben wurden, die ihren Weg nach Plymouth fanden und 1611 die erste englische baptistische Kirche in London gründeten[7]. Die baptistische Betonung der Trennung von Kirche und Staat und der Gläubigentaufe spiegelt sich im Londoner baptistischen Glaubensbekenntnis von 1689 wider[8]. Dieses Bekenntnis ist im Wesentlichen identisch mit dem (calvinistischen) Westminster Glaubensbekenntnis; die einzigen Unterschiede sind das zusätzliche Kapitel „Über das Evangelium und das Ausmaß seiner Gnade“ sowie baptistische Überzeugungen, welche die Taufe und das Wesen der Kirche betreffen. Auch hier wird sowohl die Kontinuität mit der Reformation deutlich, als auch die Diskontinuität darüber, wie die Rolle der Kirche verstanden wird.

Mennoniten-Brüder und die Gnadenlehren

Die Mennoniten-Brüder teilen diese reformiert-täuferische Geschichte auf ihre besondere Weise. Diejenigen, die 1860 letztendlich zur Mennoniten-Brüder-Gemeinde wurden, waren zuvor von dem lutherisch-pietistischen Prediger Eduard Wüst (1818-1859) beeinflusst worden, der eine reformierte Heilslehre in Verbindung mit dem pietistischem Erweckungsglauben predigte. Viele wurden unter seinem Dienst bekehrt[9]. In den frühen Tagen der MB-Bewegung war der baptistische Einfluss zusammen mit dem pietistisch-lutherischen Einfluss deutlich und unverkennbar. Unser erstes MB-Glaubensbekenntnis (1902) enthält deutliche Hinweise auf baptistische und reformatorische Prinzipien. Es ist zwar richtig, dass MB-Gemeinden stark von Jakobus Arminius und der arminianischen Theologie beeinflusst wurden, aber mein Argument ist, dass es nicht notwendigerweise so kommen musste. Wenn ein klares Verständnis von dem vorgelegen hätte, was die Gnadenlehren bieten, hätte die Bewegung meiner Einschätzung nach genauso gut diese Richtung einschlagen können.

Für viele steht das Akronym „BASIN“ im Zentrum dessen, was die Täufertheologie ausmacht. Die Bruderschaft aller Gläubigen („Brotherhood of all believers“), die Taufe der erwachsenen Gläubigen („Adult believers baptism“), die Trennung von Kirche und Staat („Separation of church and state“), dass wir in der Welt, aber nicht von ihr sind („In the world but not of it“) und dass wir unseren Feinden in liebevoller Wehrlosigkeit begegnen („Non-resistance“), stehen im Mittelpunkt der täuferischen Sichtweise.

Ebenso bildet das Akronym TULIP das Zentrum der reformierten Theologie. Man beachte hier, dass ich meine Verwendung des Wortes „reformiert“ auf die reformierten Gnadenlehren beschränke. Gehen wir diese einmal nacheinander durch.

Erstens ist unser Zustand außerhalb der Gnade derjenige der „Totalen Verderbtheit“ („Total depravity“). Das bedeutet natürlich nicht, dass wir so böse wie möglich sind, sondern nur, dass die Sünde radikal und vollständig in jeden Teil unseres Menschseins eingedrungen ist, einschließlich unseres Intellekts, unserer Emotionen, unseres Wollens, unserer Neigungen und auch unseres Willens. Kein Teil unseres Menschseins bleibt von der Sünde verschont. Reformierte Theologen haben argumentiert, dass Ungläubige oft rechtschaffene Dinge tun, diese Taten allerdings ein Ergebnis dessen sind, was sie „allgemeine Gnade“ nennen. Würde sich die allgemeine Gnade Gottes nicht über die gesamte Menschheit erstrecken, würden wir alle in die völlige Verderbtheit abgleiten. Aber Gott ist gnädig. Und doch führt diese Gnade nicht zur Erlösung. Ohne rettende Gnade haben wir trotz der Vorteile der allgemeinen Gnade nichts, womit wir uns vor Gott empfehlen können.

Zweitens kommt Gottes Gnade zu jedem, dem sie zuteilwird, ohne irgendwelche Vorvoraussetzungen. Das wird „Bedingungslose Erwählung“ („Unconditional election“) genannt. Gott wählt sich die seinen aus, ohne dass sie selbst etwas dazu beitragen könnten. Das unter vielen evangelikalen Gemeinden sehr verbreitet Verdienst der „Entscheidung für Christus“ wird hier abgelehnt, denn wenn auch unsere Entscheidungskraft von der Sünde berührt ist (das „T“ in TULIP), können wir uns nicht für Gott entscheiden. Interessanterweise hat das MB-Glaubensbekenntnis von 1902 genau das gesagt und betont, dass es ein MB-Glaubensartikel sei, an die Unfähigkeit des Menschen, auf Gott zu reagieren, zu glauben[10].
Für diejenigen, die in der reformierten Tradition stehen, wird diese Unfähigkeit nur dann überwunden, wenn Gott den Toten Leben gibt. Gott muss zuerst handeln, unabhängig von irgendwelchen menschlichen Verdiensten. Wäre es anders, wäre Gnade nicht mehr Gnade. Reformierte Theologen bestehen darauf, dass jeder Versuch, unsere eigene Erlösung zu verdienen – einschließlich des Verdienstes, sich für Gott zu entscheiden –, sich schlicht und einfach gegen die Lehre der Gnade wendet. Nein, Christus ruft uns zuerst, dann, nachdem wir von den Toten auferweckt wurden, antworten wir auf den Ruf.

Drittens ist da die umstrittene Lehre von der „begrenzten Sühne“ („Limited atonement“). Reformierte Theologen bevorzugen hier den Ausdruck „persönliche Erlösung“, was bedeutet, dass der Tod Christi am Kreuz nur für die Auserwählten bestimmt war. Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass es in dieser Frage erhebliche Meinungsunterschiede gibt. Anstatt diese Ansicht zu verteidigen oder infrage zu stellen, nenne ich sie einfach und halte fest, dass nicht jeder reformierte Theologe in diesem Punkt übereinstimmt.

Viertens haben wir es mit der wunderbaren Gewissheit der „Unwiderstehlichen Gnade“ („Irresistible grace“) zu tun. Während einmal ein allgemeiner Ruf zur Buße und zum Glauben an die frohe Botschaft des Evangeliums an alle ergeht, gibt es auch einen „wirksamen Ruf“, einen unwiderstehlichen Ruf, bei dem der Sünder so überwältigend zu Christus gezogen wird, dass sich niemand rühmen kann als nur in Christus allein.

Schließlich halten alle reformierten Theologen am „Ausharren der Gläubigen“ („Perseverance of the Elect“) fest. Es geht hier nicht darum, dass wir vor Jahren ein Bekehrungserlebnis gehabt haben und wir unabhängig davon, wie wir leben, gerettet werden, einfach nur wegen eines „Übergabegebets, das wir irgendwann mal gebetet haben“. Vielmehr erklärt diese Lehre, dass alle, die wirklich und unwiderstehlich zu Christus gezogen werden – und zwar aufgrund des ewigen Ratschlusses des Vaters, sie seinen Erwählten zuzuführen –, dies dadurch zeigen, dass sie Christus bis zum Tod treu bleiben.

Reformierter Täufer?

Hat man die Dinge so dargelegt – dass sich BASIN auf die täuferische Seite der Gleichung und TULIP auf die reformierten Gnadenlehren bezieht –, kann man leicht sehen, warum zwischen beiden kein Widerspruch besteht. BASIN bezieht sich auf unsere Ekklesiologie, TULIP hingegen auf unsere Soteriologie. Meine reformierte Seite will den Täufer zurechtbringen, indem sie sagt, dass du zwar die Kirche als das Volk Gottes betrachtest und die Nachfolge Jesu als die Berufung der Kirche, dich aber nicht gefragt hast, wie es denn dazu kommt, dass Individuen zum Volk Gottes werden können. Es ist das Fehlen einer klaren lehrmäßigen Formulierung, die zu einer Kirche führt, die nicht mehr auf Gnade, sondern auf menschlicher Meinung basiert und von jedem Wind der Lehre in die Irre geführt wird. Das Täufertum braucht die reformierte Bewegung, damit es nicht in dem leblosen Morast endet, in dem Eduard Wüst in den 1840er und -50er Jahren die russisch-mennonitischen Kolonien vorgefunden hat.

Und doch will sich meine täuferische Seite auch die reformierte Bewegung vornehmen. Eine Gnadenlehre ohne eine Ekklesiologie zu haben, die auf dem Priestertum aller Gläubigen beruht, ist gefährlich. Sie führt zu Machtmissbrauch und tauscht eine Vision, in der vor dem Kreuz alle gleich sind, für eine anderen ein, die diese Priesterschaft in immer weniger Hände legt.

Es ist diese Kombination – das Pflügen mit einem Ochsen und einem Esel –, die mich zu einem Verständnis des christlichen Glaubens geführt hat, das sowohl biblisch als auch evangelikal ist.

Schlussfolgerung

Mit diesem Standpunkt wurde ich zum ersten Mal in den frühen 1970er Jahren als Student am Columbia Bible College vertraut. Dort lernte ich das Täufertum kennen und dort las ich auch Louis Berkhofs Systematische Theologie, ein reformierter Klassiker[11]. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die vielen Details noch nicht zu einem Gesamtbild zusammengefügt, was durch spätere Studien geschehen sollte. Aber diese Grundlage ist im Zentrum meines Denkens geblieben.

Wie hat sich das auf meinen Dienst ausgewirkt? Zum einen habe ich mich der Auslegungspredigt verschrieben – einem Predigen, das den Bibeltext Vers für Vers durchgeht, so wie es in der Reformation veranschaulicht wurde. Zweitens bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Bibel eine Einheit bildet und dass daher eine richtige systematische Theologie, die auf der gesamten Bibel basiert, für Predigt und Lehre unerlässlich ist. Und schließlich hat es die Art und Weise beeinflusst, wie ich die Kirche in ihrem Verhältnis zur Welt sehe.

Es könnte noch so viel mehr gesagt werden. Ich bete, dass ein ernsthafter Dialog über diese Fragen innerhalb der Mennoniten-Brüder-Kreise doch zu einer Erneuerung dessen führen möge, wer wir sind und wer wir als Gesamtheit sein sollten.

Update

Seit der Veröffentlichung des Artikels habe ich einen Punkt neu überdacht: Da mit dem Begriff „Calvinismus“ oft falsche Vorstellungen verknüpft sind (und auch wegen einigen von Calvins Lehren, mit denen ich nicht übereinstimme), ziehe ich es vor, mich nicht als „Calvinist“ zu bezeichnen. Ich drücke es lieber so aus, dass ich an die reformierten Gnadenlehren glaube; diese Formulierung bringt das besser zum Ausdruck, was ich tatsächlich sagen möchte.

Auch bin ich inzwischen nicht mehr der Senior Pastor der Willingdon Church. Nachdem ich dort 15 Jahre lang im Dienst stand, bin ich nun Bibellehrer bei „Back to the Bible Canada“, einem christlichen Radioprogramm, das mit täglichen Bibelauslegungen von 95 Radiosendern in ganz Kanada ausgestrahlt wird. Auch bin ich Bibellehrer für „Back to the Bibel India“.

Fußnoten (englisch)

[1] Collin Hansen, Young,
Restless, Reformed: A Journalist’s Journey With the New Calvinists (Wheaton,
IL: Crossway, 2008).

[2] David Van Biema, “#3 The New Calvinism. (Cover Story),” Time 173, no. 11 (March 23, 2009): 50.

[3]See, e.g., Walter Klaassen,
Anabaptism: Neither Catholic Nor Protestant, 3rd ed. (Kitchener, ON: Pandora,
2001).

[4]William R. Estep, The
Anabaptist Story: An Introduction to Sixteenth-Century Anabaptism, 3rd ed.
(Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1996), 177.

[5]Ibid., 190.

[6]Ibid., 257.

[7]Robert Hasting Nichols, The
Growth of the Christian Church (Philadelphia: Westminster, 1914), 2:76.

[8]The text of the Confession
can be found at http://www.creeds.net/baptists/1689/kerkham/1689.htm.

[9]For a detailed account of
Wuest’s influence in the Russian Mennonite colonies, see Harold Jantz, “A
Pietist Pastor and the Russian Mennonites: The Legacy of Eduard Wuest,”
Direction 36 (Fall 2007): 232–46.

[10]See the second article of the
Mennonite Brethren Church Confession of Faith (1902), “Concerning Sin and Redemption.”
Available online at Global Anabaptist Wiki, s.v. “Mennonite Brethren Church
Confession of Faith (1902),” last modified June 21, 2012,
http://www.anabaptistwiki.org/mediawiki/index.php/Mennonite_Brethren_Church_Confession_of_Faith_(1902).

[11]Louis Berkhof, Systematic
Theology, 4th rev. and enl. ed. (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1941).

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