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Russland-Mennoniten

Bedeutende Jahreszahlen russland-mennonitischer Geschichte | 1929

Einleitung zur Artikelreihe: Mit der Reihe „Bedeutende Ereignisse mennonitischer Geschichte“ möchte ich anhand einiger wesentlicher Jahreszahlen einen groben Rahmen liefern, um die Geschichte der Russland-Mennoniten zu erfassen. Meine Absicht ist es vor allem bei denjenigen, die Nachfahren dieser Gruppierung sind oder sich hierzu zählen, Interesse an ihrer Geschichte zu wecken und zugleich Schubladen im positiven Sinne zu bieten, in die sie ihr bisheriges Wissen einsortieren können. Bisher sind in dieser Reihe Artikel zu den Jahren 1525, 1527, 1530, 1789, 1860, 1869, 1902 und 1917 erschienen.

Nachdem die Roten sich in der Oktoberrevolution, mit Lenin an der Spitze, die Macht erkämpft hatten, stirbt Lenin 1924 nach mehreren Schlaganfällen. Um die Lücke, die sein Tod hinterlässt, entwickelt sich ein Machtkampf zwischen Stalin und Trotzki, aus dem erstgenannter als Sieger hervorgeht.

1929 | Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und Verfolgung der Gläubigen

Im Jahre 1929 hat Stalin seine Alleinherrschaft gefestigt und damit sein diktatorisches und zunehmend totalitäres Regieren eingeleitet. Das zeigt sich eindrücklich an der beginnenden Kollektivierung der gesamten landwirtschaftlichen Betriebe. Die wohlhabenden Bauern, zu denen auch viele Mennoniten gehören, werden als Kulaken diffamiert, die sich auf dem Rücken der Armen bereichern würden. Ihnen werden die landwirtschaftlichen Maschinen, Ackerland und das Vieh entrissen. Manche von ihnen müssen sogar ihre Häuser verlassen, so dass sie bei Verwandten in anderen Kolonien Zuflucht suchen.

Nach Angaben von Professor Harry Löwen aus Kanada wurden in diesen Jahren zwischen zwei und drei Millionen Bauern in Russland getötet oder zur Zwangsarbeit in den Osten und Norden verbannt. Es kam nun erneut zu einer schweren Hungersnot, die allein in den Jahren 1932-33 ca. 10 Millionen Menschen in der Sowjetunion hinweg raffte.[1]

Die mennonitischen Kolonien, mit viel Überlebenskraft aufgebaut, werden 140 Jahre später mit roher Gewalt aufgelöst. Die Gemeinden hingegen bestehen noch einige Jahre, sehen sich aber großen Gefahren ausgesetzt.

Neben der beginnenden Kollektivierung erlässt die kommunistische Regierung im Jahre 1929 ein neues Religionsgesetz „Über die Religionsgemeinschaften“, indem sie den Gläubigen verbietet zu Gottesdiensten, Bibelstunden oder Ausflügen zusammenzukommen. Die Tageszeitung „Trud“ kommentiert die Ereignisse folgendermaßen: „Die Religion zappelt wie ein hart bedrängtes Tier. Sie ist verfolgt ohne Erbarmen und wird es auch weiterhin sein.“[2] Die Kommunisten gehen im Kampf gegen die Christen strategisch und perfide vor. Zunächst müssen die Gemeinden exorbitante Steuern zahlen, wodurch sie unweigerlich in die Knie gehen. Als sie dann nicht in der Lage sind, weiter die Steuern zu zahlen, werden ihre Gemeindehäuser beschlagnahmt und zu Kinos u.Ä. umfunktioniert. Dazu kommt die Inhaftierung der Ältesten und Prediger. Das Beispiel eines Dorfes namens Blumengart (Gebiet Saporoshje) sei hier angeführt:

Hier gab es in den 30er Jahren eine kleine Mennonitengemeinde. Im Dorf lebten ca. 200 Personen in 52 Häusern. Prediger war Gerhard Klassen. Älteste und Prediger aus umliegenden Dörfern halfen mit. Es gab Kinder- und Jugendarbeit. 1930 wurde die Kirche geschlossen. Prediger Klassen wurde verschleppt, er kam nie zurück. Ein Bruder Siemens übernahm später seine Aufgabe, aber auch er wurde 1936 verschleppt auf Nimmerwiedersehn. 1933 wurde das ganze Dorf ausgesiedelt und nach Sibirien deportiert. Nur einige Familien konnten 1935 wieder zurückkommen. 1938 wurden fast alle Männer verhaftet.[3]

Der Gipfel der Verhaftungswelle wird in den Jahren 1937-38 erreicht, wo auch mein Ur-Großvater von Kommunisten mit einem dunklen Lieferwagen, dem sogenannten „schwarzen Raben“, abgeholt wurde. Er kam nie wieder zurück. Etwa ein Drittel der ca. 125.000 Mennoniten sterben in den Jahren bis zum zweiten Weltkrieg und das Gemeindeleben erlischt beinahe vollständig für Jahrzehnte. Infolgedessen wächst eine Generation heran, die kein Gemeindeleben kennt und damit auch kaum noch einen Bezug zum Glauben ihrer Väter hat. In diesen dunklen Stunden übernehmen Mütter und Großmütter die geistliche Arbeit an ihren Kindern, indem sie ihnen im Verborgenen biblische Geschichten erzählen und das Beten beibringen. Das Säen in dieser Dürrephase bleibt nicht unbelohnt, viele Jahre später wird sie Frucht tragen.

[1] Heidebrecht, Hermann; Fürchte dich nicht, du kleine Herde! S.57
[2] Ebd. S.58
[3] Ebd. S.59

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