Kategorien
Russland-Mennoniten

Gemeinderegeln und die „Schlüssel des Himmelreichs“

Matthäus 16,19 und 18,18 werden häufig zur Begründung angeführt, warum Gemeinderegeln von allen Mitgliedern verbindlich einzuhalten sind. Dieser Artikel geht der Frage nach, inwiefern diese Bibelstellen einen solchen Gebrauch rechtfertigen.

Einleitung: Gemeinderegeln und ihre Begründung

In vielen russlanddeutschen Gemeinden gelten verbindliche Regeln. Es geht darin weniger um sachlich-organisatorische Fragen wie z.B. Regelungen zur Beschlussfassung. Stattdessen beinhaltet das Regelwerk die verbindliche Lehre der Gemeinde bis hin zu einer sehr konkreten Auslegung ethischer Fragen. Dementsprechend wird es „Biblische Gemeindeordnung“, „Biblische Gemeinderegel“, „Richtlinien der Gemeinde“ oder ähnlich benannt.

Einige „Regeln“ beschreiben theologische Sachverhalte, die biblisch gut begründet werden können, z.B. dass die Bibel als von Gott inspiriert anerkannt werden soll. Schnell gehen die Regelwerke jedoch zu ethischen Fragen über. Manche davon lassen sich ebenfalls gut mit der Bibel begründen. Andere schreiben jedoch auch Dinge vor, die im schlechtesten Fall biblisch überhaupt nicht hergeleitet werden können (selten) oder bei denen die Bibel einen gewissen Spielraum vorsieht (häufig), z.B. für die Familienplanung, den Kleidungsstil oder den Umgang mit Medien.

Von den Mitgliedern der Gemeinde wird jedoch erwartet, dass sie auch diese Regeln einhalten, selbst wenn die Bibel hier Freiheit unter Rücksichtnahme auf Starke und Schwache gewährt (vgl. Röm 14; 1Kor 8–10). In manchen Fällen werden Fragen bezüglich der Legitimation der Regeln als Zeichen der Rebellion gedeutet und sind unerwünscht.

Die Autorität, solche Regeln aufzustellen und ihre Einhaltung einzufordern, wird gerne mit den „Schlüsseln des Himmelreichs“ begründet. Der Ausdruck selbst taucht nur in Matthäus 16,19 auf. Der Sachverhalt wird jedoch auch in Matthäus 18,18 aufgegriffen. Die „Schlüssel des Himmelreichs“ geben der Gemeindeleitung nach diesem Verständnis quasi gesetzgebende Autorität. Nicht in dem Sinne, dass sie völlig willkürlich irgendwelche Regeln aufstellen darf. Aber in dem Sinne, dass das in der Gemeinderegel zum Ausdruck kommende Lehrverständnis für alle Mitglieder verbindlich gilt und die Umsetzung eingefordert werden kann, unabhängig davon, ob es sich um theologisch grundlegende Aussagen (z.B. zur Inspiration der Bibel) oder sog. adiaphora (dt. Mitteldinge, z.B. die Familienplanung usw.) handelt. Die Matthäus-Stellen werden nach diesem Verständnis zitiert, um zu begründen, warum das Regelwerk von allen Gemeindegliedern verbindlich einzuhalten ist.

Dieser Artikel geht der Frage nach, inwiefern diese zwei Bibelstellen einen solchen Gebrauch rechtfertigen.

Wem wurden die Schlüssel übergeben?

Matthäus 16,19 befindet sich mitten in einem Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern. Jesus fragt, für wen sie ihn halten. Simon antwortet: „Du bist der Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“ (V. 16). Daraufhin entwickelt sich aus dem Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern ein Dialog zwischen Jesus und Simon. Während letzterer bekennt: „Du bist der Christus“, antwortet Jesus (V. 17): „Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel“. Er spricht ihn mit einem besonderen Namen an und erläutert seine besondere Rolle (V. 18–19):

„Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.“

Anschließend richtet Jesus sich wieder an alle Jünger (V. 20): „Da gebot er den Jüngern, niemandem zu sagen, dass er der Christus sei“.

Wem gelten die Aussagen in V. 18–19? Steht Simon Petrus hier stellvertretend für alle Apostel? Oder meint Jesus nur den einen Jünger? Der Wortlaut legt nahe, dass Jesus seine Worte ab V. 17 ganz persönlich an Petrus und nicht an alle Apostel richtet. Das merkt man an den gewählten Pronomen („ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben“), aber auch der späteren Stellung von Petrus in der Gemeinde. Ihm wird hier eine besondere Funktion zugesprochen. Diese ist mit dem Namen verknüpft, unter dem man ihn kennt: Petrus (griech. Petros; aram. Kephas). Der Name lautet übersetzt „Fels“ und passt zu seiner kirchengeschichtlichen Rolle, wie sie im ersten Teil der Apostelgeschichte dargestellt wird. Petrus galt als Säule der Urgemeinde und Paulus stimmte sich bezüglich des Evangeliums u.a. mit ihm ab (vgl. Apg 15 und Gal 2).

Gleichzeitig war Petrus aber keineswegs unfehlbar. An einer Stelle musste Paulus ihn öffentlich ermahnen (vgl. Gal 2). Man sollte seine Vorrangstellung gegenüber den anderen Aposteln deshalb nicht überbetonen. Petrus ist gewissermaßen „Erster unter Gleichen“ (lat. primus inter pares; vgl. den Matthäus-Kommentar von D.A. Carson, S. 790). Petrus wird hier zwar eine besondere Rolle zugesprochen, aber auch die anderen Apostel werden in Epheser 2,19–21 als „Grundlage“ bzw. „Fundament“ der Gemeinde bezeichnet. Dieses Verständnis deutet auch C.H. Spurgeon in seinem Matthäuskommentar *Das Evangelium des Reiches* an:

„Wenn es keine Romanisten (d.h. die römisch-katholische Kirche, Anm. d. Verf.) gegeben hätte, die diese Stelle falsch verstanden hätten, so würde sie keine Schwierigkeit dargeboten haben. Jesus ist der Baumeister, und er und seine Apostel sind die erste Lage Steine in dem großen Tempel der Gemeinde […]. Wir sind ‚erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist.‘“

Dass die Funktion von Petrus nicht überhöht werden sollte wird spätestens klar, wenn man das Bild vom Felsen genauer bedenkt. Petrus wird nicht zum „Haupt“ eingesetzt, sondern zum „Fels“, auf den Jesus seine Gemeinde bauen will. Interessant ist zudem die Tatsache, dass die Vollmacht, die in Matthäus 16,19 Petrus gegeben wird („alles, was du binden wirst“), in Matthäus 18,18 mindestens auf die Apostel ausgeweitet wird („alles, was ihr binden werdet“). Die Gemeinde sollte also auf Petrus und die Apostel gebaut werden, war aber von Anfang an die Gemeinde Christi.

Wer verwaltet die Schlüssel heute?

Die entscheidende Frage ist, ob die hier übergebene Autorität auf die Gemeinde übergegangen ist oder nur den Aposteln vorenthalten war. Der zweite Schlüsselvers (Mt 18,18) liefert wichtige Anhaltspunkte, um diese Frage zu klären. Dort begegnen uns (bis auf die Personalpronomen) dieselben Worte wie in Matthäus 16,19:

„Wahrlich, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein.“ (Mt 18,18)

Zwei Beobachtungen sprechen dafür, dass es hier nicht nur um Petrus und die Apostel geht:

  1. Vers 18 wird umschlossen von Aussagen über „zwei oder drei“. Zuerst sind es zwei oder drei Zeugen und danach zwei oder drei, die im Namen Jesu versammelt sind. In der Seelsorge und Gemeindezucht in Gemeinden (im schlechtesten Fall bis hin zur Exkommunikation) orientiert man sich bis heute an der in Matthäus 18 vorgeschriebenen Vorgehensweise. Auch die Verheißung, dass Jesus schon bei zwei oder drei Gläubigen anwesend ist, wird bis heute als für die Gemeinde gültig angesehen. Die in V. 18 beschriebene Autorität gilt daher in sekundärem Sinne auch den Gläubigen heute (sekundär, weil keiner von uns Apostel ist).
  2. Dazu kommt der Stellenwert der Gemeinde in der Passage: Nicht die Apostel sprechen das letzte Wort, sondern die Gemeinde. Mit dem „Hört er aber auf die Gemeinde nicht“ wird sie in V. 17 als abschließende Instanz angeführt.

Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die „Schlüssel des Himmelreichs“ nicht allein den Aposteln vorenthalten, sondern auf die Gemeinde übergegangen sind.

Zwischenfazit: Die beiden Matthäus-Stellen werden von Gemeinden zurecht angeführt, um ihre Autorität zu bekräftigen, zu „Binden“ und zu „Lösen“. Gemeinden sind von der Bibel aufgerufen, die „Schlüssel des Himmelreichs“ zu gebrauchen! Das führt jedoch zur nächsten Frage.

Was bedeutet „Binden“ und „Lösen“?

So wie die Gemeinde sind die „Schlüssel des Himmelreichs“ das Eigentum Christi (vgl. Offb 3,7). Er hat sie Petrus, den Aposteln und der Gemeinde zur Verwaltung übergeben. Jesus erklärt Petrus die Funktion der Schlüssel in Matthäus 16,19: „Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein“. Was aber bedeutet „Binden“ und „Lösen“?

Matthäus 18,18 steht am Ende eines Abschnitts, in dem es (ab V. 15) darum geht, wie mit einem Menschen, der sündigt, umgegangen werden soll. Wie man ihn entweder gewinnt oder – wenn er nicht umkehrt – wie einen Heiden, d.h. einen Ungläubigen, behandeln soll. Abgeschlossen wird die Anweisung über den Umgang mit einem Bruder, der sündigt, mit der Aussage, dass alles, was von den Aposteln und der Gemeinde auf der Erde gebunden bzw. gelöst wird, auch im Himmel gebunden bzw. gelöst sein soll. Dabei geht es nicht um alles Mögliche, sondern es hat mit Sünde oder dem Sünder zu tun. Der Kontext legt also nahe, dass das „Binden“ ein Bestehen-Bleiben von Sünde zum Ausdruck bringt und das „Lösen“ Vergebung der Sünde ausdrückt. Diese Auslegung passt auch zu der in Johannes 20,23 beschriebenen Vollmacht: „Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten“.

In der Apostelgeschichte zeigt sich, wie die Apostel diese Vollmacht gebrauchen und wie sich die Ankündigung Jesu an Petrus aus Matthäus 16,18 erfüllt. Hier zeigt sich Petrus‘ besondere Rolle. Er tritt als erster der Apostel auf, predigt an Pfingsten mutig das Evangelium und schließt den Zuhörern das Himmelreich auf, indem er sie zur Buße aufruft und ihnen Sündenvergebung zuspricht: „Tut Buße, und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden“ (Apg 2,38). Genauso spricht er im Haus des Kornelius allen Vergebung zu, die glauben. In anderen Worten: Er „löst“ ihre Sünden:

„Und er hat uns geboten, dem Volk zu predigen und zu bezeugen, dass er von Gott bestimmt ist zum Richter der Lebenden und der Toten. Von diesem bezeugen alle Propheten, dass durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen“ (Apg 10,42–43).

An anderer Stelle „bindet“ er die Sünde des früheren Zauberers Simon, indem er ihn ermahnt, Buße zu tun und ihm nicht ausdrücklich Vergebung zuspricht:

„Darum tu Buße für diese deine Bosheit und bitte den Herrn, ob dir vergeben werden möge das Trachten deines Herzens. Denn ich sehe, dass du voll bitterer Galle bist und verstrickt in Ungerechtigkeit“ (Apg 8,22–23).

Bestätigung in der Kirchengeschichte

Das Verständnis, dass mit dem „Binden“ das „Behalten der Sünde“ und mit dem „Lösen“ die „Vergebung der Sünde“ im Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums gemeint ist, findet sich auch bei den Kirchenvätern (z.B. Cyprian, Tertullian, Eusebius und Augustinus) und den Reformatoren (z.B. bei Calvin, im Westminster Bekenntnis oder im Heidelberger Katechismus; vgl. Keils Matthäus-Kommentar, S. 352).

Menno Simons verbindet mit den zwei Schlüsseln (Die Schriften des Menno Simons, S. 1110) ebenfalls die Verkündigung von Gesetz und Evangelium. Zum „Schlüssel der Bindung“ merkt er an,

„dass der Schlüssel der Bindung nichts anderes ist, als das Wort und die Gerechtigkeit Gottes; das anweisende, fordernde, dringende, erschreckende und auch verdammende Gesetz des Herrn, mit dem und durch das alle unter dem […] Zorn Gottes verschlossen werden, die Christus […] durch den Glauben nicht annehmen. [… Und] dass dieser bindende Schlüssel Christi seinen Dienern und seinem Volk dazu gegeben ist, dass sie allen irdischen, fleischlichen, verhärteten und unbußfertigen Herzen ihre große Sünde Ungerechtigkeit, Blindheit, und Bosheit, dazu auch Gottes gerechten Zorn, Urteil, Strafe, die Hölle und den ewigen Tod vor Augen stellen und sie diese dadurch erschrocken, demütig, zerknirscht, reumütig, traurig und in ihrem eigenen Augen klein und tief betrübt vor Gott machen mögen“.

Anschließend spricht er vom „Schlüssel der Lösung“:

„Auf der anderen Seite wiederum ist der Schlüssel der Lösung das freudenreiche, liebliche Wort der Gnade; das vergebende, tröstende und lösende Evangelium des Friedens […] Der Schlüssel zur Lösung hingegen ist dazu gegeben, dass die Diener und das Volk Christi mit diesem Schlüssel solche zerschlagenen, bekümmerten, traurigen und reumütigen Herzen, wie vorhin erwähnt, […] zu dem barmherzigen, mitleidsvollen Hohepriester, unserem einzigen und ewigen Sühnopfer, Christus Jesus, führen […]“.

Anwendungsfelder: Verkündigung und Gemeindezucht

Die Apostel sowie die Mehrheit der Kirchenväter, inklusive Menno Simons, verbanden mit den zwei Schlüsseln also die Verkündigung von Gesetz und Evangelium. Jedem, der dem Evangelium glaubt, darf die Gemeinde Vergebung aussprechen, den kann sie „lösen“. Doch jeden, der im Ungehorsam gegenüber Gott und im Unglauben gegenüber dem Evangelium bleibt, den kann sie „binden“ – bis hin zur Gemeindezucht. C.F. Keil erklärt zu Matthäus 18,18 (Commentar über das Evangelium des Matthäus, S. 351):

„Wenn der Herr zu dieser Anweisung, wie seine Jünger mit einem sündigenden Bruder verfahren sollen, hinzufügt: ‚warlich [sic!] ich sage euch: alles was ihr auf Erden binden werdet u.s.w., so ist klar, daß er dieses Verfahren gegen den Sünder als Binden und Lösen seiner Sünde betrachtet. Daraus ergibt sich, daß die Ausschließung des Bruders aus der Gemeinde, wenn derselbe seine Sünde nicht anerkent [sic!] und aufgibt, dem Binden, und die ihn zum Aufgeben seiner Sünde bewegende Vermahnung dem Lösen entspricht, also die Ausübung der Schlüsselgewalt in der Vollmacht besteht, durch Richten über die Sünde dem Sünder die Aufnahme in das Himmelreich zu versagen und zu gestatten.‘“

Die Schlüssel bzw. das „Binden“ und das „Lösen“ kommen also in der Verkündigung, aber auch der Gemeindezucht zur Anwendung. Dieses Verständnis wird durch den Heidelberger Katechismus in den Fragen 83–85 und das Westminster Bekenntnis bekräftigt. Dort heißt es in Artikel 30.2:

„Diesen Verantwortlichen sind die Schlüssel des Himmelreichs anvertraut, kraft derer sie die Vollmacht haben, entweder Sünden zu behalten oder zu vergeben: das Reich Gottes durch beides, das Wort und die Zuchtmaßnahmen, vor denen zu verschließen, die sich in Sünde verhärten, oder aber es durch den Dienst des Evangeliums und die Lossprechung von Zuchtmaßnahmen (HK 82–85; WB 30,4) für die zu öffnen, die ihre Sünden bereuen – je nachdem es die Situation erfordert.“

Zwischenfazit: Der Gebrauch der Schlüssel ist eng an die Verkündigung von Gesetz und Evangelium sowie an die Gemeindezucht geknüpft. Doch das schränkt ihre Verwendung entscheidend ein. Die Schlüssel können nicht dazu verwendet werden, die Einhaltung jeder Gemeinderegel zu fordern. Warum nicht?

Der rechte Gebrauch der Schlüssel

Das „Binden“ und „Lösen“ geschieht einzig auf Grundlage von Gesetz und Evangelium und durch die Verkündigung derselben. Nur das Gesetz ist demnach Maßstab für Sünde (und nicht die Gemeinderegel). Nur das Evangelium bietet Vergebung der Sünden (und nicht das Bekennen, vielleicht sogar vor der ganzen Gemeinde, gegen eine Gemeinderegel verstoßen zu haben).

Gemeinden haben keine Autorität zum „Binden“ und „Lösen“ außerhalb vom Gesetz und Evangelium. Wenn Gemeinden das Himmelreich für Menschen zu- oder aufschließen oder Gemeindezucht üben, dann dürfen sie das nicht auf Basis einer Gemeinderegel tun, die über das Wort Gottes hinausgeht. Gemeinden dürfen die Gewissen der Mitglieder nicht an etwas „binden“ und etwas verbieten, was nicht mit der Offenbarung Gottes übereinstimmt. Wenn es um die Beurteilung von Sünde geht, muss Gottes Maßstab angelegt werden.

Matthäus 16,19 und Matthäus 18,18 bieten daher keine Grundlage dafür, verbindliche Regelbeschlüsse für eine Ortsgemeinde festzulegen, die über das Wort Gottes hinausgehen (vgl. dazu den Artikel „Es geht nicht um Regeln, sondern um die Genugsamkeit der Schrift“). Das aber ist der Fall, wenn man ein bestimmtes Verständnis im Umgang mit den „Mitteldingen“ (z.B. bei der Familienplanung oder beim Medienkonsum) als für alle verbindlich festsetzt, obwohl die Bibel hier Spielraum gebietet (vgl. dazu beispielhaft den Artikel „Empfängnisverhütung und Familienplanung“). Das lässt sich mit den Matthäus-Stellen nicht begründen! Gemeinden dürfen nicht „biblischer“ sein wollen als die Bibel. Damit übertreten sie das Gesetz und verkündigen nicht mehr das Evangelium.

Die Konsequenz ist, dass die Schlüssel nicht mehr passen und daher keine Anwendung finden! Das hat ganz praktische Folgen. Es darf keine Gemeindezucht geübt werden, wenn jemand z.B. gegen die Gemeinderegel bezüglich der Familienplanung verstößt, da es sich um „Mitteldinge“ handelt. Der Maßstab für Heiligkeit und Gemeindezucht ist Gottes Gesetz, nicht die Gemeinderegel. Interessanterweise werden Verstöße bei den adiaphora in diesen Gemeinden häufig auch nicht mit Gemeindezucht geahndet, sondern indem der Zugang zu manchen Dienstbereichen verwehrt wird, z.B. dem Predigtdienst. Aber niemandem darf ein Amt verwehrt werden, der zwar gegen eine Gemeinderegel verstößt (z.B. bei der Familienplanung), nicht aber gegen das Gesetz Gottes. Auf der anderen Seite darf auch niemand „auf Bewährung gestellt“ und vom Abendmahl ausgeschlossen werden, der zwar wirklich gesündigt (nicht nur gegen eine Gemeinderegel verstoßen) hat, bei dem aber Buße zu sehen ist. Wenn das Evangelium Vergebung gewährt, darf eine Gemeinde die Latte nicht bei bestimmten Sünden höher legen, wie gut gemeint auch immer das sein mag.

Schluss

Manche Gemeinderegel führt leider allzu schnell zum „Verschließen“ des Himmelreichs wie bei den Pharisäern (Mt 23,13). Deshalb soll abschließend Menno Simons zu Wort kommen, der für viele russlanddeutsche Gemeinden Namensgeber und „geistlicher Vater“ ist. Er ermahnt in dem bereits angeführten Schreiben:

„Niemand folge seinem eignen Ermessen, Sinn und Vornehmen, sondern er führe seines Herrn Christi und der heiligen Apostel Ordnung, Lehre und Befehl aus, ohne irgendwelche Rücksicht auf Fleisch, Partei oder eigene Weisheit in dieser Hinsicht zu nehmen, damit er nicht verwerfe, den Gott durch seine Gnade selig macht, und auch nicht selig spreche, den Gott in seiner Gerechtigkeit verwirft. Gott allein steht das Recht des Bindens und des Lösens zu“.

Gemeinden sollten diese Worte ernst nehmen und sich nicht als zu strenger (oder zu gnädiger) Richter aufspielen. Statt den Gemeindemitgliedern durch Menschengebote Lasten aufzulegen oder sie vom Gesetz zu entlassen, sollten sie mutig Gesetz und Evangelium verkündigen. Die Gemeinde hat die Autorität, jedem, der das Evangelium glaubt, Vergebung zuzusprechen, d.h. ihn zu „lösen“. Sie sollte aber auch Sünde ernst nehmen und auf Grundlage der Schrift ermahnen. Sie sollte zur Buße aufrufen und bis hin zur Gemeindezucht „binden“, wenn jemand in Sünde verharrt. Aber nicht, wenn Gemeinderegeln übertreten werden, bei denen es um „Mitteldinge“ geht. Dazu hat die Gemeinde keine Autorität! Denn nur „Gott allein steht das Recht des Bindens und des Lösens zu“.

Kommentar verfassen